Der Fall Radke

Inhaltsverzeichnis



Einleitung

SA und SS

Böhmcker und Saalfeldt- Leitfiguren des NS im Eutinischen

Der Fall Radke

Rezeptionsgeschichtlicher Ansatz

Versuch einer Beurteilung

Anmerkungen
Anhang
Literaturverzeichnis

Einleitung



Die Kleinstadt Eutin inmitten der Ostholsteinischen Schweiz ist besonders zwischen 1928 und 1932 nicht nur als Probebühne, sondern auch als Hochburg des Nationalsozialismus zu betrachten. Um 1930 wirkte Eutin zumindest für Außenstehende wie eine idyllische Kleinstadt, die immer noch mit dem „Glanz der einstigen Residenz“ (1) behaftet war. Ähnlich wie auf der Reichsebene wurden die gemäßigten Parteien von den extremen politischen Richtungen allmählich verdrängt, was die Ergebnisse der Reichstagswahlen (2) vom 14.09.1930 eindeutig belegen:

Reichstagswahlen 1928 1930
Stimmen für die NSDAP 151 1637
Stimmen für die SPD 1356 1292

Mit diesem Wahlausgang bestätigte sich in Eutin die allgemeine Tendenz, die der Weimarer Republik ein Ende bereiten sollte, denn die demokratiefeindlichen Parteien gingen gestärkt, die demokratische Mitte dagegen geschwächt aus den Wahlen hervor.
Ebenso bedenklich war die Tatsache, dass politische Auseinandersetzungen zunehmend radikaler und brutaler wurden, was einen zentralen Aspekt dieser Arbeit darstellen soll.
Bei den beiden rivalisierenden Parteiorganisationen handelte es sich zum einen um das Reichsbanner „Schwarz-Rot-Gold“, zum anderen um die SA bzw. die SS.
Aber auch einzelne Akteure des Nationalsozialismus haben der NSDAP zur Herrschaft in Eutin verholfen. So behandelt diese Arbeit auch die beiden Leitfiguren des Eutinischen Nationalsozialismus, nämlich zum einen Johann Heinrich Böhmcker, zum anderen Dr. Wolfgang Saalfeldt.


SA und SS



Zunächst erfolgt eine kurze Charakterisierung beider NS-Organisationen:
Die „Schutzstaffel“ wurde am 09.11.1925 zum persönlichen Schutz Hitlers gegründet. Sie unterstand bis 1934 der SA. Mit Heinrich Himmler als Reichswehrführer der SS (ab 1929) erfolgte eine stetige Distanzierung von der SA. Eine zentrale Bedeutung als Herrschafts- und Terrororgan (3) erlangte die SS erst ab 1934.
Bei der „Sturmabteilung“ handelte es sich zunächst um einen NSDAP-eigenen Ordnerdienst, bald um eine paramilitärische, braun uniformierte, gewalttätige Truppe zur „Eroberung der Straße“. Mit der Machtübernahme inszenierte die SA 1933 eine wilde Verfolgung von Gegnern, die staatlich geduldet war. Dennoch kam es sehr bald dazu, dass die Aktionen der SA skeptisch betrachtet wurden, was die Röhm-Krise einleitete. Mit den „Röhm-Morden“ im Sommer 1934 setzte der Bedeutungsverlust der SA zugunsten der SS ein.

SA-Stabschef Röhm stand der Bildung einer Volksmiliz aus SA und Reichswehr kritisch gegenüber. Vielmehr sollte der graue Fels der Reichswehr in der braunen Flut der SA untergehen.
Am 30.06.1934, in der „Nacht der langen Messer“, ließ Hitler nicht nur Ernst Röhm ermorden, sondern auch ungefähr 200 SA-Männer, wobei die SS für die eigentlichen Mordtaten sorgte und die Reichswehr für die Logistik zuständig war.
Die „Schutzstaffel“ hatte, auch wenn sie zum persönlichen Schutz Hitlers gegründet worden war, ebenso wie die SA vor der Machtübertragung eine andere Funktion als der Name verlauten ließ: Bei der SA handelte es sich bis 1934 um das Hauptinstrument für den Kampf gegen politische Gegner. Zudem versuchte sie seit 1928 auch im Eutinischen, Arbeiter und Bürger für den Nationalsozialismus „zu gewinnen“. Die SS schütze vielmehr die Ideologie der Hitlerbewegung als die Person Adolf Hitler selbst.
Die Zusammensetzung beider Organisationen entsprach nahezu der der NSDAP.
Dass der Nationalsozialismus so bedeutungsvoll werden konnte, ist zu einem gewissen Teil sicherlich auch auf die Tatsache zurückzuführen, dass viele Akademiker oder Berufstätige ähnlicher Bereiche sich im Allgemeinen für eine Mitgliedschaft in der NSDAP entschieden, was sowohl für die Reichsebene als auch für Eutin galt.
Interessant ist, wie beispielsweise die SA ihre Institutionen finanzierte. Als ein Beispiel soll nun folgende Quelle (4) dienen:

„Die Motor-SA der Gruppe Nordmark geht einem großen Ereignis entgegen. In aller Stille hat sie sich in den vergangenen Monaten eine Motor- SA- Schule in Nordoe bei Itzehoe gebaut, die erwiesenermaßen die modernste Motorschule Deutschlands wird. Unter Aufbringung ungeheurer Werte (ca. 3 Millionen Mark) ist hier eine Schule entstanden, die unseren jungen Kämpfern, zu denen auch viele Kunden Ihrer Anstalt bzw. deren Söhne gehören, eine Spezialausbildung mit auf den Weg gegeben wird, die sie nirgendwo anders bekommen können. […] Die Motorstandarte 14 bittet Sie daher, ihr nach bestem Können bei der Erfüllung der gestellten Aufgabe zu helfen durch Zeichnung eines möglichst großen Betrages, denn wir haben unter Anspannung aller unserer (4) Kräfte die Schule gebaut, nun soll der Führer durch Sie (4) an unseren Männern sehen, daß der alte Spruch ‚Nordmark voran’ noch immer gilt. Und noch eines: Geben Sie, bitte, schnell, denn die Fabriken können nicht von heute auf morgen liefern. Schreiben Sie uns auch bitte nicht, daß Ihre Zentrale oder übergeordnete Dienstelle bereits eine größere Spende gegeben hat, nein, die Motorstandarte 14 wendet sich bewußt auch an die einzelnen Zweigstellen, da sie weiß, daß es auch der kleinsten Filiale möglich sein wird, RM 100 bis 200 für die oben angeführten Zwecke frei zu machen. […] Die Motorenstandarte 14 wird Ihnen ihren Dank abstatten durch die Gewähr, den jungen Kämpfern die Ausbildung mitzugeben, die die in Zukunft bitter nötig haben werden.
Der Führer der Motorenstandarte 14
[…]
Obersturmführer und Adjudant“

Insgesamt lässt sich sagen, dass sowohl die SA als auch die SS, die nach der Machtübertragung den „SS-Staat“ aufbaute, das härteste und zugleich erfolgreichste Propagandamittel der NSDAP darstellten.
Als besonders wirkungsvoll erwiesen sich zur Unterdrückung politischer Gegner und zur Ausschaltung jeglicher gegnerischer Tätigkeiten die Aufstellung der im Landesteil Lübeck bereits im Sommer 1932 erprobten SA-„Hilfspolizei“ und die Erweiterung der Polizeibefugnisse.
Die Propaganda durch die Nationalsozialisten bzw. SA und SS sorgte letztendlich dafür, dass die SPD aus der Öffentlichkeit verschwand. Den Rest gab der SDP jedoch das Verbot als „volks- und staatsfeindliche Partei“. Demnach wurde der Aufstieg der NSDAP also nicht nur durch die Maschinerie des Terrors. sondern z.B. auch durch Teile der Polizei und einzelne Gerichte entscheidend befördert.


Böhmcker und Saalfeldt- Leitfiguren des NS im Eutinischen



Im Allgemeinen setzte sich auch im Eutinischen die Gruppe der führenden NS-Mitglieder während der „Kampfzeit“ und in den ersten Jahren des Hitlerreiches aus Akademikern zusammen. So waren beispielsweise Juristen und Mediziner häufig in der NSDAP anzutreffen, da diese im Nationalsozialismus vermutlich die einzige Alternative zum Parlamentarismus der Weimarer Republik sahen.
Böhmcker und Saalfeldt weisen unterschiedliche, zugleich aber auch exemplarische Lebensläufe auf; auch wenn das öffentliche Leben beider gut dokumentiert ist, erfolgt hier eine Beschränkung auf die wesentlichen für den Nationalsozialismus in Eutin wichtigen Aspekte.
Der bekanntere und aktivere Nationalsozialist Johann Heinrich Böhmcker (5) soll zunächst mithilfe seines Lebenslaufes vorgestellt werden:

„Ich bin am 22. Juli 1896 bei Braak geboren. Mein inzwischen verstorbener Vater war Landwirt Adolf Böhmcker, meine ebenfalls verstorbene Mutter Elise geb. Sach. Von 1903 bis 1906 habe ich die Dorfschule in Braak besucht, von 1906 bis zum Kriegsausbruch das humanistische Gymnasium in Eutin. Hier habe ich vom Felde aus im August 1915 die Reifeprüfung bestanden. […] Im Juli 1918 wurde ich zur Beförderung zum Reserveoffizier eingegeben. Die Beförderung verhinderte der Ausbruch der Revolution. […] Ich bin im Januar 1926 Mitglied der NSDAP geworden. […] Seit 1928 bin ich rednerisch tätig (6). Seit Anfang 1930 führe ich den Bezirk Ostholstein. […] Seit 1930 bin ich Mitglied des Stadtrates und des Landesausschusses für den Landesteil Lübeck. Seit 1931 gehöre ich als Mitglied dem Oldenburger Landtage an.“

Einige Tatsachen sind zur Person Böhmckers zu ergänzen. Trotz seiner evangelischen Konfession trat er aus der Kirche aus, was seinen Angaben nach politisch motiviert war. Der Erste Weltkrieg ist als Schlüsselerlebnis für Böhmcker anzusehen, denn aus dem Krieg und dessen Ausgang entwickelte sich seine Verbitterung. Besonders das Gefühl der Entwurzelung und die deutsche Nachkriegslage waren nämlich der Grund dafür, dass Böhmcker Mitglied der NSDAP und der SA wurde. Abgesehen davon ist es wichtig, dass es Böhmcker mit seinen rethorischen Fähigkeiten durchaus gelang, die „Masse“ für den Nationalsozialismus zu begeistern.
1921 war er an mehreren Gerichten beschäftigt, wo man ihm gute Rechtskenntnisse, eine klare und präzise Art der Darstellung, aber auch eine Neigung zur Oberflächlichkeit nachsagte.

Böhmcker, der bis zu seinem Lebensende derbe Sprachgewohnheiten an den Tag legte und eine Vorliebe für die körperliche Arbeit der Landbevölkerung hatte, gründete, vermutlich zur persönlichen „Bereicherung“, ein „wildes“ Konzentrationslager und hatte einige Ämter inne (darunter auch das Amt des regierenden Bürgermeisters von Bremen bis zu seinem Lebensende).
Der Rechtsanwalt spielte bei der Einführung des Dritten Reiches eine primäre Rolle. Nachdem es am 29.05.1932 erstmals zu einer NS-Mehrheitsregierung im Freistaat Oldenburg gekommen war, wurde das Dritte Reich formal durch die Ernennung Böhmckers zum Regierungspräsidenten des Landesteils Lübeck eingeleitet.
Bei der Rede anlässlich des Amtsantrittes stellte Böhmcker sein Regierungsprogramm vor, das ein Schreckensregiment erwarten ließ, wobei das zentrale Merkmal der Politik die Unterdrückung der politischen Gegner war. So entfernte Böhmcker beispielsweise Bürgermeister Stoffregen aus dessen Amt.

Auch Dr. Wolfgang Saalfeldt soll zunächst mit seinem selbstverfassten Lebenslauf (7) vorgestellt werden:

„Auf Veranlassung der Gauleitung übersende ich nachstehend meinen Personalbogen:
Der Endesunterzeichnete wurde am 9. Oktober 1890 in Berlin geboren und erhielt auf dem Andreas Realgymnasium, Berlin das Zeugnis der Reife. Er studierte in Erlangen, […] und machte in Kiel sein Staatsexamen. […] Während des Krieges war er in den als Garnisonlazarette umgewandelten Kliniken Kiel’s tätig und wurde dann zur Diakonissenanstalt nach Flensburg eingezogen, wo er sich als Kriegsassistenzarzt auf Widerruf betätigte. […] Nach der Revolution ließ er sich in Eutin […] als Facharzt für Chirurgie und Frauenkrankheiten nieder. Parteipolitisch beschäftigte er sich nach der Revolution in der Deutschnationalen Volkspartei und im Stahlhelm, aus denen er dann doch bald austrat. Er trat darauf in die NSDAP Völkisch Sozialer Block ein, die aber nachher dann aufgelöst wurde und so trat er im November 1928 in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei und gleichzeitig in die SA ein.[…]“

Dieser Personalbogen enthält einige Informationen nicht. So ist es zum Beispiel wichtig, dass die Gemütsverfassung Saalfeldts am Ende des Ersten Weltkrieges der Böhmckers ähnelte, auch wenn diese anderen Lebensumständen entsprang. Saalfeldt hatte ein Herzleiden, aufgrund dessen er den Krieg lediglich an verschiedenen Krankenhäusern verbracht hatte. Der somit fehlende Frontdienst lieferte einen weiteren Grund für die Minderwertigkeitskomplexe in der militarisierten Welt der NSDAP. Dieses wurde dadurch verstärkt, dass er als uneheliches Kind einer Berliner Sprachlehrerin geboren worden und vermutlich ein Jude sein leiblicher Vater war. Dieser Umstand löste unter anderem Streit in der NSDAP und Angst bei dem Betroffenen aus. Der lange hinausgezögerte Sturz Saalfeldts verstärkte die innerparteiliche Krise der NSDAP, da seine vermutete jüdische Abstammung von den Gegnern ausgeschlachtet wurde.
Saalfeldt, der auch Frauenarzt war, wurde wegen rechtswidriger Durchführung von Abtreibungen verhaftet. (8)
Da Saalfeldt und Böhmcker als talentierte Redner bekannt waren, werden nun zwei Reden beider vorgestellt, die besonders deren Ansichten und auch deren Wirkung auf die Zuhörer verdeutlichen:

„Die Hochschulgruppe Kiel der NSDAP hatte zu einem Vortrag unseres P[arteigenossen] Böhmcker (Eutin)… eingeladen. Der vollbesetzte Saal zeigte das Interesse, welches von allen Kreisen der Kieler Bevölkerung diesem Thema [„Wege ins Dritte Reich“] entgegengebracht wurde. In begeisterten, von hohem Idealismus getragenen Worten führte… Böhmcker etwa folgendes aus: ‚[…] Wir Nationalsozialisten glauben an das deutsche Volk. Und dieser Glaube gibt uns die Erkenntnis des Wegs, den wir gehen müssen…. Wir müssen zu unserer Befriedigung
feststellen, daß gerade die Leute, die noch vor kurzer Zeit glaubten, uns mit höhnischem Achselzucken und Totschweigen abtun zu können […], sich sehr eingehend mit uns beschäftigen… […]’ Eingehend setzte sich der Redner dann mit den sogen[annten] politischen Parteien auseinander, jeder die Maske abreißend […] Ebenso offen und ehrlich setzte […] Böhmcker sich mit dem wilhelminischen Staat auseinander, schonungslos seine Fehler aufdeckend. […] ‚Der alte Staat war kein Volksstaat. Er war ein bürgerlicher Klassenstaat schlimmster Sorte! Der deutsche Arbeiter, der durch Hirn und Faust die deutsche Weltstellung mit schuf, der sah, wie aus seinem Schweiß einer Klasse Reichtümer in den Schoß fielen, und er immer abseits stehen musste, wie er immer und immer wieder über die Schulter angesehen und als Mensch zweiter Klasse angesehen wurde […].
Jene Revolte 1918, gemacht von Zuhältern und ähnlichem Gesindel, war keine Revolution. Revolution ist die Geburt einer neuen, heiligen Idee über etwas Zusammenbrechendem! […] 1918 wurde etwas Altes weggefegt, ohne daß man Besseres an seine Stelle setzte!’ […] In hinreißenden, begeisternden Schlussworten zeigte… Böhmcker uns das hehre Ziel des Dritten Reiches, das wir bauen, weil wir erwacht sind, und das Wirklichkeit wird, wenn alle Deutschen erwacht sind! Der Abend war ein Erlebnis.“ (9)

Der folgende Redeauszug (10) von Saalfeldt zeigt exemplarisch eine Vermischung aus verblasenem Idealismus und rhetorischen Drohgebärden gegen die politischen Gegner:
„[…] Das äußere Kleid, ob braun, schwarz oder grau, spielt […] keine Rolle, allein auf die Seele und den Geist kommt es an, um die unsauberen Machenschaften der Unterwelt und des Internationalismus zu bekämpfen und eine Welt der Ehre und Anständigkeit aufzurichten. Das durch den Führer geschaffene Band verbindet uns alle zu dieser Tat; wir wollen die Garanten bleiben, um das Werk Adolf Hitlers für immer sicherzustellen, falls die noch lebende Kommune und Reaktion es wagen sollten, Vergiftungserscheinungen hineinzutragen. […] Wir sollen vergeben und vergessen, aber unsere jetzigen Gegner werden wir im Kampf zu treffen wissen. […]“

Im weiteren Verlauf der Entwicklung wird sich herauskristallisieren, inwiefern besonders Böhmcker als Leitfigur des eutinischen Nationalsozialismus zu bezeichnen ist.


Der Fall Radke



Den Aufstieg des Nationalsozialismus und den Niedergang der Weimarer Republik begleiteten eine Reihe politischer Auseinandersetzungen, die zwischen dem Reichsbanner und der SA bzw. der SS ausgetragen wurden.
Beide Seiten profilierten sich in der Öffentlichkeit- die einen, um den Parlamentarismus und dessen Befürworter zu vernichten, die anderen, um die Demokratie aufrechtzuerhalten.
Den ersten Tiefpunkt politischer Auseinandersetzungen erreichte Eutin am 27.11.1930 bei der „Leberschlacht im Schlosshotel“ (11) (auch „Saalschlacht“ genannt) zwischen der NSDAP und der SPD, bei der mehr als 20 Personen schwer verletzt wurden. Dies zeigte nicht nur die zunehmende Brutalität, sondern auch ein Schwinden politischer Toleranz dem Andersdenkenden gegenüber, die für eine faire und sachliche Auseinandersetzung zwingend notwendig ist.
Die NSDAP beschuldigte das Reichsbanner, welches entgegnete, dass die Nationalsozialisten, die den Zusammenstoß im Schlosshotel provoziert hätten, und die städtische Polizei gemeinsam die Verantwortung trügen. Stoffregen, der damalige Bürgermeister Eutins, war der Ansicht, das Reichsbanner dürfe nicht die Schuld für das geflossene Blut auf die Polizei und den politischen Gegner schieben.

Sowohl vor als auch nach der Machtübernahme der NSDAP war die Verherrlichung der „für Hitlers Fahne“ gestorbenen Märtyrer ein Propagandamittel. Die „Ehrenliste der Ermordeten der Bewegung“ trug bis zum Ende 1932 insgesamt 202 Namen. Rund 43000 Nationalsozialisten waren verletzt worden. Dabei zählten nicht nur diejenigen 16 Verstorbenen bei dem gescheiterten Münchener Putsch (08./09.11.1923), sondern auch Personen, die weitestgehend unbekannt blieben (13). 1931 schrieb ein SA-Führer an Stabschef Ernst Röhm, dass „das Sterben für die Bewegung nahezu erstrebenswert“ sei. Dieser Kult gipfelte in der 1934 von Hitler verfügten „Stiftung für die Blutzeugen der Bewegung“ (14).
Während der zwölf Monate, die dem Ausgang der Wahlen und den Zwischenfällen vom Herbst 1930 folgten, strengte die SPD sich an, mittels einer regen Agitationstätigkeit den Sieg der NSDAP aufzuhalten. Dennoch erhielten die Nationalsozialisten bei der Wahl zum Landtag von Oldenburg am 17.05.1931 rund 48% aller in Eutin abgegebenen Stimmen.
Die Reibereien häuften sich im Laufe des folgenden Jahres und beide Seiten begannen, zu den Waffen zu greifen. Reichsbanner-Ortsgruppenleiter Leiboldt rechtfertigte die Bewaffnung des Reichsbanners folgendermaßen:

„Von unseren politischen Gegnern wird eine derartige Hetze gegen die Republik […], die soziale Demokratie […] getrieben, sodaß es über kurz oder lang zu einem Bürgerkrieg kommen muß, wenn diese Hetze nicht aufhört. Wir werden dann zu allen Gewaltmitteln greifen, um diesen Staat zu schützen. Um auch für eine solche Auseinandersetzung gerüstet zu sein, sind diese Keulen angeschafft worden.“ (15)

Johann Heinrich Böhmcker erklärte demgegenüber, dass es keiner Erläuterung bedürfe, dass „zwei Eisenhaken im Gesamtgewicht von 170 Gramm geeignet sind, schwere Verletzungen herbeizuführen.“ (16)
Diese Karabinerhaken aus Eisen gehörten standardmäßig zu den Schulterriemen Eutiner SA-Männer.

Ungefähr ein Jahr nach der „Leberschlacht im Schlosshotel“ kam es, wie des Öfteren im Laufe des vergangenen Jahres, erneut zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Reichsbanner und der SA- mit dem Unterschied, dass dieses Aufeinandertreffen gravierendste Folgen hatte, die auch einige Jahre nach der blutigen Begegnung spürbar waren.
Die Kette der Ereignisse, die dem 09.11.1931 vorausgingen, setzte am 06.11.1931 ein. An diesem Tag meldete der 1. Vorsitzende der Reichsbanner-Ortsgruppe Eutin bei der örtlichen Polizeibehörde einen Ummarsch durch die Stadt an, der am Abend des 09.11. stattfinden sollte. Anlass war die Ehrung der Revolution von 1918. Bei dieser Kundgebung sollten neben Reichsbannerleuten auch das so genannte Jungbanner, eine Turneringruppe, ein Spielmannszug und SPD-Mitglieder teilnehmen. Zwei Tage später hielten die Eutiner SA und SS einen sonntäglichen Kirchgang mit anschließender Kreuzniederlegung zur Erinnerung an die Opfer des Putschversuches von 1923, anschließend einen Umzug durch die Stadt ab. Das Reichsbanner meldete, sich dessen durchaus bewusst, zur gleichen Zeit einen Ausmarsch seiner Truppe an, bei dem es sich um eine Übung handeln sollte. Beide Formationen trafen sich nach dem Abschluss ihrer Veranstaltungen um den Marktplatz herum. Dass eine Schlägerei gerade noch verhindert werden konnte, führte das Reichsbanner auf die Disziplin seiner Leute, die NSDAP auf ihre Führer und die Landesregierung auf das schnelle Reagieren der anwesenden Polizisten zurück. Am nächsten Tag kursierten Gerüchte von einer bevorstehenden Auseinandersetzung der Gegner im Verlauf der sozialdemokratischen Gedenkfeier am 09.11., ohne dass diese zu den Behörden durchdrangen. Die örtliche Parteileitung der NSDAP ordnete für diesen Abend einen Zuzug uniformierter, sprich bewaffneter Nationalsozialisten aus der Umgebung (Malente, Süsel) an. Hierbei ist anzumerken, dass auch Reichsbannerleute Waffen trugen, vermutlich ohne Kenntnis der Leitung.

Am späten Abend des 09.11. erreichte der Umzug, der den Fackelmarsch eine Stunde zuvor begonnen hatte, gegen 21.30 Uhr seinen Ausgangspunkt, den Marktplatz. Dort waren einige Nationalsozialisten anwesend, sowohl in Zivil als auch in Uniform, die die Fahrbahn des Umzuges besetzt hielten.
Durch diese musste sich der Zug noch seinen Weg bahnen, ehe er planmäßig zum Abschluss kommen konnte. Als der an der Spitze marschierende Spielmannszug, die Abordnungen des Jungbanners und die „Schufo“ (16) schon an ihrem Ziel, dem Gasthof „Stadt Kiel“ angelangt waren, ertönte wiederholt aus der Mitte der vor dem Wirtshaus von Breede, dem Parteilokal der NSDAP, Versammelten der Sprechchor: „Deutschland erwache“. Laut Reichsbannerangehörigen sind auch die Worte „Wer hat uns verraten? Die Sozialdemokraten!“ und „Juda verrecke“ gefallen, worauf jene „Hitler verrecke“ riefen. Spätestens an dieser Stelle (17) gehen die überlieferten Aussagen auseinander.
Zu Beginn der Kampfhandlungen saß Karl Radke im NS-Parteilokal zusammen mit dem berüchtigten SA-Schläger und späterem Konzentrationslagerkommandanten Theodor Tenhaaf. Als vermutlich ein SA-Angehöriger „SA raus!“ schrie, um sich dem Reichsbanner entgegenstellen zu können, verließen beide mit anderen Nationalsozialisten zusammen das Lokal und befanden sich nun inmitten des vorbeilaufenden Reichsbannertrupps. Tenhaaf wurde gleich von Reichsbannerleuten zu Boden geworfen, Radke wurde mit einem ersten Messerstich von unbekannter Hand verletzt, woraufhin er zu Boden fiel.

Die Tochter des Gastwirts Breede vermutete, dass das Reichsbanner bewusst auf Tenhaaf losstürmte, da dieser unter anderem für das Verprügeln des Landtagsabgeordneten Broschko im vorherigen Jahr mitverantwortlich gewesen war. Weiterhin war sie der Ansicht, dass der Messerstich sein Ziel lediglich verfehlte, als dieser Radke traf. Für diese These gab es allerdings keine handfesten Beweise.
Weiterhin versuchten zwei SA-Männer, den verletzten Radke fortzuschaffen; diese wurden aber durch Reichsbannerleute gehindert. Die Darstellung der NSDAP verweist weiterhin darauf, dass anschließend mehrere Reichs- und Jungbannerleute zugleich auf Radke einschlugen und einstachen, was durch das Urteil der Lübecker Staatsanwaltschaft (1933) als Fakt erscheint.
Radke versuchte sich zu dem Breedeschen Lokal zurückzuschleppen, wo ein Sanitäter der SA seinen Kopf notdürftig verband. Trotz der Betreuung durch den anwesenden NS-Kreisleiter und Chirurgen Saalfeldt starb Radke noch am Breedeschen Lokal an inneren Blutungen.
Über das Opfer dieser Auseinandersetzung ist nur wenig bekannt, eine genaue Erläuterung der Beziehung zwischen ihm, Böhmcker, der NSDAP und der SA bzw. SS ist nicht möglich. Karl Radke wurde 1898 als Sohn eines Rechnungsrates, der nach seiner Pensionierung in Eckernförde-Borby wohnte, wo Radke auch beerdigt wurde. Mit siebzehn Jahren zog Karl Radke als Primaner freiwillig in den Krieg und kam als Fliegeroffizier mit zahlreichen Orden zurück. Nach der Kriegsdienstzeit hat er sich als Reserveleutnant auch am Kapp-Putsch beteiligt haben. Erst im März 1931 siedelte Radke als Vertreter des Butterversandhauses „Vierklee“ nach Eutin über, wo er bei SA-Führer Böhmcker zur Miete wohnte. Radke war kein Mitglied der NSDAP, dennoch aber SS-Mann.
Das Reichsbanner war der Ansicht, dass allein die Anhänger der Hitlerbewegung für das geflossene Blut verantwortlich gewesen seien, die Polizei eine Mitschuld trage, da sie den Weg für das marschierende Reichsbanner nicht freigehalten habe.
Die Eutiner Regierung und ihr folgend das Staatsministerium in Oldenburg sowie auch das Landgericht Lübeck hielten das Reichsbanner für die Angreifer, während die Lübecker Staatsanwaltschaft 1933 nicht einmal festzustellen konnte, von welcher Seite der erste Angriff ausging.
Die Schlacht auf dem Marktplatz, bei der neun weitere Nationalsozialisten (leicht) verletzt wurden, dauerte lediglich zehn Minuten. Erst nachdem die Kampfhandlungen beendet waren, schritt der einzige an diesem Abend diensthabende Polizist ein. Der Tod Radkes wurde nur wenige Minuten später bekannt gegeben.

Anschließend wurden die Reichsbannerleute auf Waffen durchsucht, diese hatten jedoch ihre Waffen noch verstecken können. Leiboldt sammelte sie auf der Bühne des Vereinslokals „Stadt Kiel“, dessen Gastwirt Wilhelm Ramm diese dann in den großen Eutiner See warf.
Anzumerken ist, dass auch aus Malente eintreffende SA-Männer ergebnislos auf Waffen durchsucht wurden.
Gegen Mitternacht kehrte wieder Ruhe in Eutin ein.
Bereits am Morgen des 10.11. setzten die Ermittlungen ein. Mit Zustimmung der Eutiner Regierung wurde zur Ermittlung des Täters eine Belohnung ausgesetzt, die sich auf 500 Reichsmark belief.
Die Ereignisse des 09.11.1931 wurden zwar von einer großen Anzahl an Beteiligten in mehreren Prozessverhandlungen ausführlich dargelegt, doch wegen ihres Ablaufes und der Parteilichkeit einiger Zeugen ist eine genaue Rekonstruktion des Tatherganges bis heute nicht möglich. Das Beweismaterial, welches die Reichsbannerleitung zu ihrer eigenen Verteidigung sammelte, ging nach der NS-Übernahme auf Reichsebene verloren.
Die NSDAP in Eutin war weniger mit einer direkten Ermittlung des Täters beschäftigt. Vielmehr setzte nur wenige Minuten später die propagandistische Ausschlachtung der Vorfälle ein.
Auch in Eutin fand für Radke eine Trauerfeier am 13.11.1931 in der Eutiner Reithalle statt. Beerdigt wurde Radke in Eckernförde. Während der Trauerfeier, der ein Trauerzug vorausgegangen war, nahm Böhmcker seinen SA- und SS-Männern (die Zahl wird auf ungefähr eintausend geschätzt) auf dem Eckernförder Marktplatz das Gelübde ab, „nicht nachzulassen im Kampf für die Einigkeit und Befreiung des deutschen Volkes und sich den Kameraden Karl Radke als Vorbild zu nehmen für Treue […]. […], er habe das Recht erworben, ein Held genannt zu werden. Ruhe in Frieden, Karl Radke!“ (18)
Bereits einen Tag nach der Ermordung Radkes setzte eine bisher ungekannte Terrorisierung der Eutiner Reichsbanner- und SPD-Mitglieder durch die Nationalsozialisten ein. So erhielten beispielsweise der Führer des Reichsbanner, Leiboldt, und der sozialdemokratische Presseberichterstatter Adolf Buhrke Morddrohungen.
Um weitere Bluttaten zu verhindern, verbot die Eutiner Regierung bis zum 31.12.1930 alle politischen Umzüge und Versammlungen unter freiem Himmel, was sowohl vom Reichsbanner als auch von der NSDAP einzuhalten war.
Thema einer Massenversammlung („Welche Bedeutung hat der 9.November für Eutin?“ (19)) war es unter anderem, das SPD-Parteilokal schließen zu lassen. Böhmcker ging noch weiter: Er forderte die „Ächtung und Ausschluss aller Reichsbanner- und SPD-Mitglieder aus der städtischen Lebensgemeinschaft“. Um dieses durchzusetzen, sagte er: „Wir wollen keine Gewalttaten, aber wir verleugnen nicht die Stimme unseres Blutes.“ (20)

Nur wenige Minuten nach der Bekanntgabe der Tötung Radkes begannen die Nationalsozialisten, einen Täter zu suchen. Sie waren besonders eifrig bei der Ermittlung verdächtiger Personen und es scheint so, als ob bei der Ermittlung im Allgemeinen unsauber gearbeitet wurde, da in gewissen Zeitabständen mehrere Personen verhaftet wurden.
Reichsbannerleute, denen die Tötung vorgeworfen wurde, äußerten, dass SA- oder SS-Leute Radke ermordet hätten, um einen Märtyrer zu schaffen, der ein erfolgreiches Propagandamittel gewesen wäre.
Die Polizei nahm jedoch nur Sozialdemokraten fest. So wurde beispielsweise ein Druckereiangestellter verhaftet, der am besagten Abend ein dolchartiges Messer bei sich trug, seinen Angaben nach jedoch nur zur Selbstverteidigung. Er wurde zu vier Monaten Gefängnis verurteilt.

Nur bei einem Reichsbannermitglied kam es zum Prozess: Der aus Malente stammende Verdächtige wurde jedoch aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Ein weiterer Reichsbannerangehöriger, dessen Täterschaft unwahrscheinlich war, wurde zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Seine Strafe war, auch wenn eine Schuld letztendlich nicht bewiesen wurde, relativ leicht, denn 1933 wurden Reichsbannerangehörige, die aus Nationalsozialisten „Märtyrer“ machten, auch zum Tode verurteilt und/oder im Konzentrationslager erschossen.

Der Fall Radke ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Die Lübecker Staatsanwaltschaft musste zuletzt gestehen, dass „eine Klärung der Vorfälle vom 9. November durch gerichtliches Urteil mithin nicht mehr stattfinden“ würde. Mit dieser Erklärung wollte sich die NSDAP nicht zufrieden geben und es erfolgten weitere Verfolgungen durch die SA auf eigene Faust.
Der Kreisleiter Saalfeldt stellte fest, dass „durch den 9. November 1931 eingetretenen Unglücksfall“ ein „starker Zuwachs der SA-(Reserve) und zivilen Parteigenossen [durch Eintritt in die NSDAP, J. W.] zu bemerken“ sei.
Der Tod Radkes und die dadurch ermöglichte Propaganda verhalfen der NSDAP mit zur alleinigen Regierungsgewalt im Freistaat Oldenburg. Die politische Stellung der demokratischen Parteien jedoch wurde sehr ungünstig und spiegelte deren Krise, die auch auf Reichsebene nicht zu verkennen war, deutlich wider.
Das Reichsbanner beispielsweise reagierte darauf mit Resignation:

“Man findet bei diesen Eutiner Versammlungen eine geradezu erschreckende Übereinstimmung mit jener Taktik, die der italienische Faschismus vor der Machtergreifung in Italien befolgte. Sie ist ganz eindeutig auf Einschüchterung der Behörden und der staatstreuen Bevölkerung eingestellt. Ob sie zum Erfolg führt, darüber entscheidet einzig und allein die Frage, ob Staat und Republikaner wirklich einschüchtern lassen. Mit allem Ernste müssen wir jetzt an die zuständigen Stellen […] die Frage richten, ob sie gewillt sind, vor diesem Kampfe der Nationalsozialisten zu Kreuze zu kriechen. […] Ja oder Nein?“ (21)
Die Antwort auf diese Frage gab der Tag der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler.
Anlässlich des ersten Jahrestages der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler wurde eine bronzene Gedenktafel an dem Wirtshaus Breede von der NSDAP angebracht, die die SPD bis zum Ende des NS-Regimes an ihre „Schandtat“ erinnern sollte.

„AM 9.11.1931 WURDE HIER
DER SS-MANN
KARL RADKE
VON REICHSBANNER-
MÖRDERN ERSTOCHEN
ER STARB FÜR DAS DRITTE REICH.“ (22)

Radkes Tod ist als das erfolgreichste Propagandamittel der NSDAP in Eutin und Umgebung zu betrachten. Der Fall Radke wurde in der regionalen Geschichtsschreibung während des Nationalsozialismus entstellt. Beispielsweise sprach ein Lübecker Parteihistoriker von einem „plötzlichen“ (unprovozierten) Überfall der auf dem Marktplatz „stehenden Gruppe“ von Nationalsozialisten durch „zahlreiche Reichsbannerleute“, die tags darauf mit Kameraden aus Lübeck mit „Parabellum-Pistolen mit 1000 Schuß Munition“ Verstärkung erhalten hätten (tatsächlich trug deren Leiter eine Pistole mit 15 Patronen).
Bei der von Böhmcker und anderen Nationalsozialisten geschworenen Rache handelte es sich nicht bloß um leere Worte. Die Errichtung des im Gerichtsgefängnisses untergebrachten “wilden“ Konzentrationslagers im Frühsommer 1933 bot die Gelegenheit für das Stillen der Rachelust.






Rezeptionsgeschichtlicher Ansatz



In der heutigen Zeit ist von den damaligen regionalen Turbulenzen nahezu nichts mehr zu spüren. Diejenigen Menschen, die damals bereits lebten, können heute nicht mehr viel über die Geschehnisse in den beiden Jahren nach 1930 berichten. Der Fall Radke scheint, salopp formuliert, „geklärt“ oder zumindest vergessen zu sein.
Begibt man sich auf Spurensuche, so findet man nicht den kleinsten Hinweis darauf, dass am 09.11.1931 ein Mann umgekommen ist, dessen angebliche Ermordung durch das Reichsbanner vorerst das Ende der SPD bedeutete und den endgültigen Startschuss für die Schreckensherrschaft der SA und später der SS darstellte. So ist zum Beispiel von der Gedenktafel, die am 30.01.1934 vor dem Sturmlokal der SA bzw. der SS abgebracht wurde, nichts mehr zu sehen. Männer, die zur damaligen Zeit der NSDAP oder einer ihrer Unterorganisationen angehörten, sind entweder bereits gestorben oder nicht zu sprechen.
Insgesamt lässt sich feststellen, dass der Fall Radke heute nur regionalgeschichtlich Interessierten bekannt ist, ansonsten aber im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit keine Rolle spielt, auch wenn er besonders 1931 und 1932 den Dreh- und Angelpunkt hinsichtlich des Aufstieges der NSDAP und den gleichzeitigen Niedergang der SPD im Eutinischen bedeutete.
Lediglich eine Auflistung der Fliegeroffiziere des Ersten Weltkrieges nennt Radkes Namen. Ansonsten bleibt er weitestgehend unerwähnt. Sowohl in der näheren Umgebung Eutins als auch in Eckernförde, wo Karl Radke beerdigt wurde, sind keine Angehörigen auffindbar.


Versuch einer Beurteilung



Der Zeitraum zwischen 1930 und 1934 zeigt mehrere Auffälligkeiten. Die demokratische Mitte hat es trotz der Bemühungen u. a. des Reichsbanners nicht geschafft, das Dritte Reich abzuwenden.
SA und auch SS hatten organisiertere Strukturen als das Reichsbanner, sodass SPD und Reichsbanner kaum Chancen auf einen Sieg hatten. Zudem hatte der Nationalsozialismus (NSDAP, SA, SS) in Eutin eine besonders starke Führung, deren rhetorische Fähigkeiten dafür sorgten, dass hunderte Menschen sich der Hitlerbewegung anschlossen. Reden etwa von Johann Heinrich Böhmcker fanden oft statt. Öffentliche Auftritte, die eine breite Masse hätten erreichen können, waren von SPD-Seite aus sehr häufig.
Es bleibt die Frage, wie wahrscheinlich eine (Mit-)Täterschaft der Nationalsozialisten bei der Ermordung Radkes ist. Die Vermutung, dass Radkes Mörder sich in den eigenen Reihen befanden, ist durchaus plausibel. Radke war, salopp formuliert, ein Niemand. Listen oder Gedenktafeln der „für die Bewegung gestorbenen“ Nationalsozialisten wurden nicht geschaffen, um die Getöteten als Individuen zu würdigen, sondern stellten lediglich ein Propagandamittel dar. Man kann sagen, dass Radke vielleicht von Nationalsozialisten ermordet wurde, da ein Propagandamittel für den Wahlkampf geschaffen werden musste. Wie sich herausstellte, war die Tötung Radkes, einer nahezu unbekannten Person, das Schlüsselereignis, welches für die endgültige Niederlage der SDP sorgte und zugleich der Herrschaftssicherung der NSDAP diente.
Speziell der Fall Radke wirft einige Fragen auf. Warum vernichtete die NSDAP nach der Machtübertragung Beweismaterial, welches das Reichsbanner und die SPD zusammengetragen hatten, um sich zu verteidigen, eventuell sogar ihre Unschuld zu beweisen? Eine Frage, die nicht beantwortet werden kann. Fest steht, dass der Nationalsozialismus zumindest indirekt den Tod vieler seiner Anhänger zu verantworten hat, denn viele Zusammenstöße endeten erst durch Provokationen der Nationalsozialisten blutig. Auf Reichsebene spielte sich während der beschriebenen Zeit dasselbe wie in Eutin ab, allerdings mit zeitlicher Verzögerung.
Wäre der Fall Radke nicht passiert, dann hätte eventuell eine andere Entwicklung stattgefunden: Die SPD hätte zumindest eine Chance gehabt, sich in der Öffentlichkeit weiterhin zu profilieren.


Anmerkungen



Foßnoten

(1) Prühs, S. 128
(2) Es werden nur die in Eutin abgegebenen Stimmen betrachtet.
(3) Die SS begann nach der Röhm-Krise mit dem Aufbau des „SS-
Staates“, der vor allem in einem Netz von Konzentrationslagern sein äußeres Erscheinungsbild fand.
(4) aus Stokes (1984), S. 478 (im Oroginal hervorgehoben)
(5) aus Stokes (1984), S. 289
(6) 1929 wurde Böhmcker zum Gauredner ernannt.
(7) aus Stokes (1984), S. 287f
(8) Saalfeldt überlebte das Dritte Reich; er starb 1953.
(9) aus Stokes (1984), S. 91f
(10) aus Stokes (1984), S. 406
(11) Bericht der Polizeibehörde, siehe: Anhang 1
(12) Auch Karl Radke war eine unbekannte Person.
(13) Diese sah unter anderem eine Art Abfindung für die Hinterbliebenen vor.
(14) aus Stokes (2004), S. 289ff.
(15) ebd.
(16) Schutzformation: Hierbei handelt es sich um eine besonders ausgebildete Einheit, die aus den jüngsten und zugleich kräftigsten Mitgliedern rekrutiert wurde.
(17) genauerer Verlauf (Polizeibericht), siehe: Anhang 2
(18) zitiert nach: Stokes (2004), S. 289ff.
(19) ebd.
(20) ebd.
(21) aus Stokes (2004), S. 289ff.
(22) ebd.





Anhang



(1) Vorläufiger Bericht der Polizeibehörde Eutin, in: AFL, Nr. 281, 30.11.1930
(eigenhändig gekürzt):

„Zu der auf den 27. November, 8 ½ Uhr abends, im Schloßhotel anberaumten öffentlichen Volksversammlung des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, Ortsgruppe Eutin, waren verschiedene auswärtige Reichsbannerabteilungen nach Eutin gekommen. Die Zahl der im Schloßhotel versammelten Personen wird auf etwa tausend geschätzt, unter denen sich eine größere Zahl uniformierter Angehöriger der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei befand. […]
Der Referent des Abends, Reichstagsabgeordneter Dr. Leber, der über das Thema „Hitlers großer Betrug“ sprechen sollte, hatte kaum wenige Worte gesprochen, als er durch den Zwischenruf: `Denk an Schwartau, du Lümmel!` unterbrochen wurde. […] Die Versammlungsleitung versuchte, die Ruhe wiederherzustellen, was jedoch nicht gelang. […]
Während das Publikum durch die Fenster sowie durch die Türen das Lokal fluchtartig verließ, wurden die Streitenden durch das Polizeiaufgebot getrennt. […]
Da es in den Vermittlungsstunden des 28. Novembers erneut zu ernsten Schlägereien kam, sah sich die hiesige Polizeiverwaltung genötigt, zwecks Aufrechterhaltung der Ordnung und zur Sicherheit eine Abteilung der Lübecker Ordnungspolizei zu erbitten. Die noch geplanten Wahlversammlungen sind verboten. […]“
aus: Stokes, Lawrence D.: Kleinstadt und Nationalsozialismus, a. a. O., S. 125,
Dokument [I/22A]


(2) Bericht des Polizeikommissars Dierks (gekürzt):

„Plötzlich wurde von der Straße her ein Stein in das Gaststubenfenster des Breedeschen Lokals geschleudert, womit gleichzeitig das Signal zu einer Schlägerei gegeben war. Ein Teil des Publikums, das vor dem Breedeschen Lokal sich aufhielt, wurde in dieses hineingedrängt und von nachstürmenden Reichsbannerleuten verfolgt. Der diensthabende Polizeibeamte versuchte vergeblich, die Streitenden auseinander zu bringen, da einige Gruppen des Reichsbanners offenbar sich auf Kommando stoßartig bewegten. Es wurde wahllos auf das Publikum eingeschlagen, obwohl uniformierte Nationalsozialisten darunter nicht festgestellt werden konnten.“
Dem fügte die NSDAP hinzu:
„Nicht ein einziger Nationalsozialist oder Unbeteiligter hat sich auf den letzten Teil des Reichsbanners gestürzt, sondern, nachdem der Schluß des Zuges etwa 10 Meter entfernt war, wurde plötzlich kehrt gemacht und auf das dort stehende Publikum mit erhobenen Stöcken, Messern, Dolchen und anderen Mordwerkzeugen im Laufschritt vorgegangen und eingeschlagen, und zwar planmäßig […].“
aus: Stokes (1984), S.223f


Erklärung der Ortsgruppe Eutin der NSDAP; in: AFL, Nr. 267, 13.11.1931:

„Die Erklärung des Reichsbanners… in Bezug auf die traurigen Vorkommnisse […] spotten wegen der darin enthaltenen groben Unwahrhaftigkeiten und Lügen jeder Beschreibung. […], wahr ist vielmehr, daß das Reichsbanner in scharfer Schwenkung bis dicht an den Kantstein heranging, das Publikum nach beiden Seiten drängte und […] weitermarschierte. […] Nicht ein einziger Nationalsozialist oder Unbeteiligter hat sich auf den letzten Teil des Reichsbanners gestürzt, sondern, nachdem der Schluß des Zuges etwas 10 Meter entfernt war, wurde plötzlich kehrt gemacht und auf das dort stehende Publikum mit erhobenen Stöcken, Messern, Dolchen und anderen Mordwerkzeugen im Laufschritt vorgegangen und eingeschlagen, und zwar planmäßig. […] Die Alleinschuld an dem bestialischen Morde trägt einzig und allein das Reichsbanner.“
aus: Stokes (1984), S.224f (gekürzt)






Literaturverzeichnis



Brather, Jürgen: Ahrensbök in der Zeit von 1919-1945, Schmidt- Römhild, Lübeck 1998,

Danker, Uwe, Astrid Schwabe: Schleswig-Holstein und der Nationalsozialismus, Wachholtz Verlag Neumünster, 2004

Prühs (1981), Ernst-Günther: Geschichten aus Eutins Geschichte, Eutin 1981

Stokes (1984), Lawrence D.: Kleinstadt und Nationalsozialismus. Ausgewählte Dokumente zur Geschichte von Eutin 1918-1945, Neumünster, 1984

Stokes (2004), Lawrence D.: „Meine kleine Stadt steht für tausend andere…“, Studien zur Geschichte von Eutin in Holstein, 1918-1945, Eutin 2004

Wollenberg, Jörg: Ahrensbök- Eine Kleinstadt im Nationalsozialismus, 2000



www.akens.org/akens/texte/info


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