Die Ausgebombten, Flüchtlinge und Vertriebenen
Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
2. Ausgebombte
3. Flüchtlinge und Vertriebene
4. Verhältnis zwischen den Einheimischen und Flüchtlingen
5. Anmerkungen
6. Quellen- und Literaturverzeichnis

Einleitung

Schleswig-Holstein ist in der Fläche von großen Kriegseinwirkungen während des Zweiten Weltkrieges weitgehend verschont geblieben. Die Hauptangriffsziele der Alliierten waren die militärisch wichtigen Städte Kiel, Lübeck und Hamburg. Eine Stadt wie Eutin bot in der Endphase des Krieges und während des Krieges keine lohnende militärische Ziele, außer vielleicht der Rettberg Kaserne.
Stattdessen wurden Schleswig Holstein insgesamt und auch Eutin einer der
Hauptzufluchtsorte für Soldaten und Flüchtlinge. Nachdem die Ausgebombten nach den Luftangriffen aus den Städten aufs Land geflohen waren und somit auch nach Eutin gekommen waren, folgten diesen gegen Ende des Krieges die Flüchtlinge, die aufgrund des Vormarsches der Roten Armee aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches nach Westen geflohen waren. Wenig später kamen die Vertriebenen aus den durch die Sowjetunion besetzten deutschen Gebieten. Dies war für die meisten Menschen in Eutin und Umgebung eine völlig neue Situation, da sie erstmals die Kriegseinwirkungen direkt erlebten und sich dem Problem der Versorgung und Unterbringung der Flüchtlinge stellen mussten. Dass die Einheimischen nicht gerade erfreut darüber waren, ist nachzuvollziehen, da sie selbst noch keine starken Einschnitte in ihr Alltagsleben durch den Krieg hatten hinnehmen müssen.

Ausgebombte

Als Ausgebombte werden die Menschen bezeichnet, die aufgrund der schweren
Luftangriffe auf die (Groß-)Städte auf das umliegende Land oder in die Kleinstädte flohen. (1)
Mit dem Beginn der Luftangriffe auf die deutschen Großstädte begann die
Massenflucht. Nach der Luftoperation „Gomorrha" im Hochsommer 1943 auf Hamburg flohen die Menschen nach Schleswig Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen. Viele Menschen kamen auch in das sichere Ostholstein und fanden sich so in Eutin wieder. (2) Im März 1944 lebten immerhin über 2500 Ausgebombte in Eutin. Davon stammten 1769 aus Hamburg, 441 aus Kiel und 302 aus anderen Städten. Im November 1943 waren es erst 1728 aus Hamburg, 120 aus Kiel und 119 aus anderen Städten gewesen. (3) Am 2.8. 1943 beschlagnahmte der Landrat von Ostholstein wegen der sich anbahnenden Engpässe in der Unterbringung schon Unterkünfte.
Hierbei diente der Schlossplatz als erster Sammelplatz für die Ausgebombten.
Anfangs konnten sie noch in Privatquartieren oder Hotels untergebracht werden, später jedoch mussten die Ausgebombten, bedingt durch die stark angestiegene Zahl, in Massenunterkünften unterkommen. Sie bekamen Lebensmittelkarten und das Nötigste (z.B. Haushaltgeräte, Kleidung) gestellt. Zu diesem relativ frühen Zeitpunkt wurden sie schnell integriert. Zu dieser Zeit zeigten die Eutiner eine große Aufnahmebereitschaft und Toleranz gegenüber den Neubürgern. (4) Daher kam es auch zu keinen Auseinandersetzungen zwischen beiden Seiten, was aber damit zusammenhängt, dass die Ausgebombten nicht als Fremde angesehen wurden, da sie meistens aus den umliegenden Städten oder mindestens aus den westlichen Reichsteilen kamen. Außerdem konnten die Ausgebombten (und die Einheimischen) davon ausgehen, dass sie bald wieder in ihre Heimatstadt zurückkehren.
Viele der Ausgebombten sind damals auch tatsächlich in ihre Heimatstädte zurückgekehrt.

Flüchtlinge und Vertriebene

Als Flüchtlinge werden in unserem Zusammenhang die Menschen bezeichnet, die aufgrund des Vordringens der Roten Armee in die Ostgebiete des Deutschen Reiches ihre Heimat verließen. Vertriebene hingegen sind Deutsche, die aus den durch die Sowjetunion besetzten Gebieten ausgewiesen wurden oder geflohen sind. (5)
Das Jahr 1945 weist zwei Flüchtlingswellen auf. Die erste Flüchtlingswelle kam ab Januar 1945. Diese Flüchtlinge flohen vor der nach Westen vordringenden Roten Armee. Die Flüchtlingstrecks kamen aus Ostpreußen, Danzig, Westpreußen und Pommern. Die Wehrmacht setzte ihren Kampf an der Ostfront unter anderem auch deshalb fort, um noch so vielen Deutschen wie möglich die Flucht nach Westen zu ermöglichen. Derartige Rettungsaktionen waren die Verschiffungen Ostdeutscher von z.B. Danzig nach Kiel, Eckernförde, Swinemünde oder Saßnitz. Dadurch wurden zwischen zwei und drei Millionen Menschen evakuiert. Sie wurden anschließend auf die Kleinstädte im Hinterland verteilt. Je weiter die Rote Armee nach Westen vorrückte, desto mehr Flüchtlinge kamen nach Eutin. (6) Es flohen vor allem Frauen, Kinder und alte Menschen.
Die zweite Flüchtlingswelle (Vertriebene) setzte im großen Maßstab Ende 1945, also bereits nach der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches, ein, als die Deutschen aus den sowjetisch besetzten Gebieten Ostdeutschlands vertrieben wurden. Die Vertriebenen kamen entweder zu Fuß, mit der Pferdekutsche oder in den seltensten Fällen mit einem motorisierten Fahrzeug. Sie hatten z.T. lange Irrfahrten und schreckliche Erlebnisse hinter sich, bevor sie in Eutin in Sicherheit waren. Sie hatten in der Regel nur das Allernötigste mitnehmen können und mussten in Eutin ein vollkommen neues Leben beginnen. Die Bevölkerungszahl Eutins schwoll durch die Flüchtlinge ständig an: Allein im Februar 1945 waren 750 neue Flüchtlinge in Eutin angekommen. Und die Bevölkerungszahl stieg auf 12134. Ende März waren es schon 13.418 und im April 15.161. Im Mai erfolgte eine regelrechte Explosion der Flüchtlingszahl: In diesem Monat kamen mehr Flüchtlinge als in den vier Monaten zuvor, nämlich 4559 Personen.
Damit lebten im Mai 19.799 Menschen in Eutin. (7) Die Bevölkerung Eutins hatte sich dadurch in nur 15 Monaten mehr als verdoppelt, wodurch zwangsläufig Probleme entstehen mussten. Die Ausgebombten konnten untergebracht werden; aber die Zahl der Flüchtlinge war zehnmal so hoch, und die Flüchtlinge wurden seitens der Eutiner nun tatsächlich als Fremde empfunden. Es herrschten widrige, oft auch menschenunwürdige Bedingungen in den Unterkünften. Anfangs lebten die Ankommenden noch in Pferdewagen, in Zelten, teilweise in offenen Scheunen oder Ställen, Gartenlauben oder Notbaracken. Am 29.3.1945 verabschiedete der Eutiner Landrat einen Erlass zur Beschlagnahmung von Wohnraum zur Unterbringung von Flüchtlingen. Jedes private Gebäude konnte somit beschlagnahmt und Flüchtlinge dort untergebracht werden. Weiterhin wurden in sieben privaten und öffentlichen Einrichtungen Flüchtlingslager gegründet: nämlich in der Reit- und Fahrschule, im Cafe Ehmke, im Bellevue, im Braunen Haus in der Plöner Straße 48, in der Jugendherberge, im Jagdschloss Sielbeck und im Eutiner Schloss (8), wobei auf die beiden letzteren Massenunterkünfte unten noch genauer eingegangen wird.
Die Stadt war bemüht, jedem Flüchtling ein Dach über dem Kopf (9) zu besorgen. Die Flüchtlinge konnten selber wenig gegen die Zuweisung in eine bestimmte Unterkunft tun; dennoch kam die Anwendung von Gewalt nicht vor. Stattdessen entwickelten viele Flüchtlinge erstaunliche Initiativen, um sich das Leben etwas angenehmer zu gestalten. Es entstanden auch Baracken auf dem Kasernengelände; die Flüchtlinge wurden auch in den Scheunen der umliegenden Bauernhöfe untergebracht. Betrug der Wohnraum pro Kopf 1939 noch 13,5 qm, waren es 1945 nur 3,7 qm, 1948 stieg er dann wieder auf 6 qm an. (10) Die Einheimischen mussten nicht nur empfindliche Einschränkungen ihres eigenen Wohnraumes, sondern auch andere Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen. So bot sich in Eutin phasenweise ein Bild des Schreckens, weil die Stadt mit Flüchtlingen überfüllt war. (11) Die Flüchtlinge hatten nur wenige Toiletten und Waschgelegenheiten. Sie mussten auf Strohsäcken oder anderen behelfsmäßigen Schlafmöglichkeiten schlafen. Es gab keine ungestörte Nachtruhe, keine Intimpflege und es mangelte an Bekleidung und Wäsche.
Die Verpflegungsprobleme waren leichter zu lösen als die Unterbringung der Flüchtlinge. Diese wurden größtenteils von der DRK-Feldküche versorgt und sie bekamen Lebensmittelkarten. Anfang 1945 herrschte dann aber fast im gesamten Reich Nahrungsmittelknappheit. Auch in Eutin standen bis zu 250 Menschen vor den Bäckerläden und die wöchentliche Butterration wurde auf 50 g heruntergesetzt, nur noch 0,4 Liter Milch pro Woche wurden ausgeschenkt.
Das Elend nahm gerade nach der bedingungslosen Kapitulation z.T. erschreckende Formen an. Deshalb wurde jedes Stück Land bepflanzt, auch der Schlossgarten. Zu Konflikten kam es u.a. deshalb, weil wegen der großen Not auch Gärten und Äcker der Einheimischen geplündert wurden. Zudem blühte der Tauschhandel: Man tauschte noch verbliebene Wertgegenstände gegen Lebensmittel ein. Ein weiteres Problem war die Beheizung der Räume in der Winterzeit, deshalb wurde unter anderem auch die „Notgemeinschaft Schleswig-Holstein" gegründet, die aus Hilfsorganisationen, Handwerkskammern, Parteien und Ausschüssen der Gewerkschaft bestand. Die Flüchtlinge brauchten Holz, um Feuer machen zu können. Holz entwickelte sich zu einem wertvollen Beutegut. Die Wälder waren leer von losem Holz und öffentliche hölzerne Anlagen wurden demontiert, z.B. die Umkleidehütte der Badeanstalt oder die Einfriedung am Schlossgarten im Jungfernstieg. Auch viele Privatleute wurden bestohlen, was wiederum weitere Spannungen zwischen den Einheimischen und den Flüchtlingen hervorrief. Deshalb stellte die Stadt 20 Hilfspolizisten, überwiegend Flüchtlinge, die für mehr Sicherheit in Eutin sorgen sollten, ein. Diese kleine Truppe stand aber in keiner Relation zu der um das Doppelte gewachsenen Bevölkerungszahl. Immerhin blieben größere Brände trotz des Verstoßes gegen alle feuerpolizeilichen Vorschriften aus. Trotz extremer hygienischer Mängel (Rattenplage,
keine ordentlichen Frischhaltemöglichkeiten für Lebensmittel, zahlreiche überfüllte Aborte, mangelnde Körperpflege) kam es wie durch ein Wunder zu keine Epidemien oder Seuchen.
Weitere Probleme der Neuankömmlinge bestanden darin, dass die Familien oft zersprengt waren; überall hingen daher Zettel an Bäumen und Wänden, auf denen nach Familienangehörigen gesucht wurde. (12) Viele Flüchtlinge erhofften sich Arbeit auf den umliegenden Bauernhöfen, da etliche von ihnen auch auf einem Bauernhof gearbeitet hatten, um sich ein bisschen Geld oder Lebensmittel dazu verdienen zu können. Die städtischen Zuweisungen reichten zur Deckung des Lebensunterhaltes nicht aus. (13) Dazu kam die Enge: Teilweise mussten sieben Personen in einem Zimmer leben, wobei manche auch die Haus- und Küchengeräte der Hausbesitzer benutzen mussten. (14)
Im Eutiner Schloss fehlte es auch am Allernötigsten. Nur was die Flüchtlinge am Körper trugen, war ihr Hab und Gut. Sie wurden nur mit den allerwichtigsten Dingen, wie Möbeln, Wäsche und Geschirr ausgestattet. Es gab keine ausreichenden Kochmöglichkeiten. Die Bewohner wurden durch Gulaschkanonen des DRK versorgt, später bekamen sie Brennhexen gestellt. Das elektrische Leitungsnetz war sehr schwach, wodurch weder Badewannenwasser noch Badeöfen erwärmt werden konnten. Es gab nur drei Toiletten pro 100 Bewohner. Von Januar bis April 1945 waren 110 Flüchtlinge im Schloss untergebracht. Im August 1945 waren es bereits 260 und seinen Höchststand erreichte die Einquartierung 1946 mit 390 Bewohnern, wovon alleine 90 im Rittersaal untergebracht waren. (15) Die meisten Flüchtlinge lebten bis zu fünf Jahren im Schloss. Ihr Alltag wurde durch eine Hausordnung bestimmt. Auch im Schloss kam es indessen trotz erheblicher hygienischer Mängel (z.B. Vorkommen von Ratten, Mäusen, Kopf- und Kleiderwanzen, Flöhen, Läusen und Kakerlaken) nicht zu Seuchen. (16) Auch größere Brände blieben aus, obwohl es nur unzureichende Brandschutzmaßnahmen gab.
Mit dem Winterbeginn 1945 mussten Öfen beschafft werden. Im strengen Winter 1946/47 reichten die Wärmemaßnahmen in allen sieben Flüchtlingslagern nicht aus, was dazu führte, dass in der Wilhelm-Wisser-Schule eine öffentliche Wärmehalle eröffnet werden musste.
Neben dem Schloss liegt der Marstall, in dem im Gegensatz zum Schloss die sozial niedrigeren Schichten wohnten. (17) Im Marstall herrschten noch weitaus armseligere Lebensbedingungen als unter den Flüchtlingen im Schloss. Der Marstall war ursprünglich nur als Durchgangslager vorgesehen gewesen, wodurch die z.T. menschenunwürdigen Bedingungen erklärt wurden. Die Bewohner sollten in menschenwürdige Wohnungen umgesiedelt werden. Es gab nur drei Zimmer für 71 Personen, zudem herrschte eine Rattenplage und die Latrinen waren schwer zugänglich und übel riechend.
Folgen für das Schloss blieben nicht aus. Es entstanden große Bauschäden, es kam zur Schimmelbildung und der Holz- und Mauerschwamm breitete sich aus. Viele Gemälde waren angeschimmelt oder verschimmelt. Teilweise herrschte Einsturzgefahr. Die Situation im Schloss entspannte sich erst, nachdem neuer Wohnraum geschaffen worden war und Flüchtlinge umgesiedelt werden konnten. Die prominentesten Flüchtlinge im Schloss waren der Herzog Adolf Friedrich zu Mecklenburg, Otto Nölte, Ohrenarzt Dr. Schaff und der Maler Paul Wunderlich. (18)


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![]() Eutiner Schloss: Die Renovierung der Schäden am und im Gebäude durch die jahrelangen Einquartierungen dauerten fast zwei Jahrzehnte. In den letzten Jahren werden nun immer weitere Teile des Schlosses der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. (Bildgeber: Rathlau) |

Auch im Sielbecker Jagdschloss wurden Flüchtlinge untergebracht. Das
Flüchtlingslager bestand aus zwei Baracken und dem Jagdschloss. Hier kamen ca. 170 Flüchtlinge unter, im Saal des Jagdschlosses wohnten 30 Menschen. Das Lager wurde von der Lagerleiterin Dr. Hildegard Fester, der Verpflegungsverwalterin Hanna Heinrich und der Sekretärin Hildegard Bark verwaltet. (19) Es gab keinen Wasseranschluss und alle Bewohner hatten unter einer Rattenplage zu leiden.
Dusch- und Bademöglichkeiten waren auch nicht vorhanden. Es gab eine einzige Toilette, die aus je einem Trockenabort für Männer und Frauen bestand. Um Seuchen zu vermeiden wurde reichlich Chlorkalk zur Desinfektion ausgestreut. (20) Alle Flüchtlinge mussten sich selbst verpflegen. Die Wohnfläche für einen Bewohner betrug durchschnittliche 3,03 qm. Es herrschte dennoch eine sehr harmonische Gemeinschaft im Jagdschloss, was unter anderem durch die Hochzeit eines jungen Flüchtlingspaares mit allen Bewohnern als Hochzeitsgästen bestätigt wurde. (21) Da die Leichtbau-Baracken baufällig und nicht winterfest waren, wurden viele Flüchtlinge und zwei Gulaschkanonen am 9.11.1946 in das Malenter Kurhaus verlegt. (22) Anfang der 50er Jahren konnten die Flüchtlinge das Jagdschloss verlassen und in menschenwürdige Unterkünfte umziehen. Danach waren auch am Jagdschloss weitreichende Sanierungsarbeiten fällig.
Christliche Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft und gegenseitiges Verständnis, sowie Opferbereitschaft waren die höchsten Werte (23), die es unter den Flüchtlingen gab. Die Nachbarschaft war daher nicht nur ein bloßes Nebeneinanderleben, sondern bedeutete die gemeinsame Benutzung von allem. Man wusste, dass man auf den anderen Rücksicht nehmen musste.
Ab 1950 begann sich die Lage langsam zu entspannen. Mehrere hundert Flüchtlinge kehrten auf eigenen Wunsch bereits in den Jahren 1946/47 in die Sowjetische Besatzungszone zurück und viele der Ausgebombten gingen in ihre Heimatstädte zurück. Wenige Flüchtlinge wanderten jedoch in andere Zonen in Westdeutschland ab. Für die hier gebliebenen Flüchtlinge musste Wohnungsraum geschaffen werden. Bis 1953 wurden von 256 neu gebauten Wohnungen und Häusern 246 an Flüchtlinge vergeben. (24) Es wurden neue Wohngebiete geschaffen, um den Flüchtlingen ein neues Zuhause zu bieten. Dies erkennt man heute noch an den Straßennamen in Eutin, die auf die Herkunft der Flüchtlinge und Vertriebenen hindeuten: Breslauer Straße, Neustettiner Straße, Königsberger Straße und Danziger Straße. (25)
Auch die Parteien SPD und CSP (Vorgängerpartei der CDU in der Nachkriegszeit) forderten Unterbringungsmaßnahmen in ihren Wahlprogrammen. So verlangte die SPD „ein weitschauendes Wohnungsbauprogramm zur Behebung der Wohnungsnot und menschenwürdige Unterbringung der Ausgebombten und Ostflüchtlinge". Die CSP setzte auf „die Ansiedlung von nachgeborenen Bauersöhnen von Landarbeitern und Ostflüchtlingen nach einem gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren". (26)

Verhältnis zwischen den Einheimischen und Flüchtlingen

Das Verhältnis zwischen den Einheimischen und den Flüchtlingen war in den
ersten Nachkriegsjahren sehr angespannt. Da die Eutiner die Schrecken des Krieges mehrheitlich nicht am eigenen Leibe erfahren hatten, stießen hier zwei völlig verschiedene Gruppen der deutschen Bevölkerung aufeinander. (27) Hinzu kam noch die Herkunft der Flüchtlinge, die in Eutin eher als Fremde denn als Deutsche angesehen wurden. Die meisten Flüchtlinge kamen nach Eutin mit der Absicht, nach wenigen Wochen wieder in die Heimat zurückkehren. Jedoch mussten sie bald erfahren, dass dies nicht mehr möglich war. So grenzten sich viele am Anfang von den Einheimischen ab. Die Eutiner litten im Krieg weder an Hunger noch wurden sie Opfer von alliierten Luftangriffen, daher war es für die Einheimischen nur schwer zu verstehen, warum man aufgrund der Flüchtlinge eine Verschlechterung des Lebensstandards hinnehmen musste. Die Eutiner beklagten sich über die Massen an Flüchtlingen in der Stadt, die nun auch versorgt werden mussten. Bei vielen Eutinern entwickelte sich das Gefühl, gegenüber den Flüchtlingen benachteiligt zu werden. (28) Dies spiegelte sich auch in dem Verhalten gegenüber den Flüchtlingen wider. Manche Einheimischen waren nicht bereit, Flüchtlinge in ihrem Haus aufzunehmen, geschweige denn, ihnen die notwendigsten Dinge fürs Leben zu verkaufen. Dies erzeugte bei den Flüchtlingen ein Gefühl der Erniedrigung, ein Gefühl, sich den Einheimischen unterwerfen zu müssen, um sich vielleicht nur einmal richtig waschen oder die Zähne putzen zu dürfen. (29) Selbst die Eutiner Stadtvertretung war der Ansicht, dass die Eutiner nach drei Monaten bereits genug für die Flüchtlinge getan hätten. Daher musste in der unmittelbaren Nachkriegszeit die britische Besatzungsmacht durch zunehmenden Druck auf die Einheimischen dafür sorgen, dass die Integration vorangetrieben wurde. Im Sommer 1945 begangen die Einheimischen sich den Flüchtlingen zu öffnen. Nachdem diese am Anfang viel Unverständnis und Hartherzigkeit hatten erleben müssen (30), wurden die Eutiner langsam hilfsbereiter. Jedoch legten sich die Streitigkeiten zwischen den Flüchtlingen und den Einheimischen nie richtig. Viele Hausbesitzer beschwerten sich, dass ihre Häuser für Zwangseinquartierungen benutzt wurden, und sie hatten das Gefühl, dass sie nun die Geduldeten im Haus wären.
Die Flüchtlinge standen in keinem guten Ruf, da seit der Ankunft der Flüchtlinge so viel gestohlen wurde wie noch nie. Die Flüchtlinge stahlen in ihrer Not in der Stadt, auf den Feldern und in den Gärten. Die Flüchtlinge wurden von den Bauern von den Feldern gejagt, wenn sie sie beim Ährennachlesen erwischten. Ihnen wurden auch Morde und organisierte Überfälle vorgeworfen. (31) Die „Heimatentwurzelung“ bedeute in vielen Fällen auch eine „moralische Entwurzelung"; Flüchtlinge seien „Pack", „Fremdlinge" – so die Meinung vieler Einheimischer über die Ostdeutschen (32).
So kümmerte sich der Landrat selber um die Versorgung der Flüchtlinge mit Arbeitsplätzen. Dies führte zu weiteren Spannungen, sahen sich nun viele Einheimische diskriminiert. Ein gängiger Spruch aus den Nachkriegsjahren besagte deshalb: „Kommst du aus dem Osten, bekommst du einen Posten". (33) Dies zeigt den Neid und die Missgunst der Einheimischen, da sie glaubten, die Flüchtlinge als Fremde würden ihnen gegenüber bevorzugt. Die Integration in den Arbeitsprozess war daher durchaus schwierig und langwierig.
Die Eingliederung in die Gesellschaft und die Integration ins Arbeitsleben wurde durch das DRK, die Kirche sowie durch die Landsmannschaften und Vereine der Flüchtlinge gefördert. (34)


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![]() Ehemaliger Marstall: Das Gebäude beherbergt heute nicht nur das Ostholstein-Museum, sondern in trauter Nachbarschaft (in seinem rechten Flügel) auch das "Heimatmuseum des Kreises Neustettin in Pommern", das das Andenken an die alte Heimat wach halten soll. (Bildgeber: Rathlau) |

Auch die Gottesdienste waren so gut besucht wie nie zuvor (35), hier fanden Einheimische und Flüchtlinge zueinander.
So hat menschliche Hilfe vielen Flüchtlingen durch die für sie schwere Zeit geholfen und den Integrationsprozess deutlich beschleunigt, so dass die Integration der Flüchtlinge allen Widrigkeiten zum Trotz dennoch gelang; denn wer unterscheidet heute nach 60 Jahren noch zwischen Einheimischen und Flüchtlingen in Eutin?

Anmerkungen

1 vgl. Petzold, Klaus, S.138
2 vgl.: Ders., a.a.O.,S.139
3 Ebd.
4 vgl. Tillmann; S 73
5 vgl. Petzold (2000), S.138
6 vgl. Tillmann, S.74-77
7 vgl. Petzold, Frank, S.44
8 vgl. Tillmann, S.78
9 vgl. Schippel,S.140
10 vgl. Tillmann, S.78
11 vgl. Schönfeld, Tagebucheintrag vom 14.7.1945
12 vgl. ders., a.a.O., Tagebucheintrag vom 18.8.1945
13 vgl. Schippel, S.138
14 vgl. Schippel, S.136
15 vgl. Petzold, Klaus, S.141- 145
16 vgl.: Ders., a.a.O.,S.143
17 vgl.: Ders., a.a.O., S.147
18 vgl.: Ders., a.a.O., S.149-150
19 vgl.: Ders., a.a.O.,S.157
20 Ebd.
21vgl. :Ders., a.a.O., S.159
22 vgl.: Ders., a.a.O., S.157
23 vgl. Petzold, Frank, S.51
24 vgl. Tillmann, S.82
25 Ebd.
26 Schönfeld, Artikel über Parteienprogramme
27 vgl. Petzold, Frank, S.49
28 Ebd.
29 Ebd.
30 vgl. Schippel , S.138
31 vgl. Schönfeld, Tagebucheintag vom 19.10.1945
32 vgl. Schönfeld, Tagebucheinträge zu Flüchtlingen
33 vgl. Petzold, Frank, S.49
34 vgl. Tillmann, S.79
35 vgl. Petzold, Frank, S.5

Literaturverzeichnis

Petzold, Frank: Die Flüchtlingsproblematik; in: Ders.: Kriegsende in Eutin, hrsg. vom Verband zur Pflege und Förderung der Heimatkunde im Eutinischen e.V., Eutin 1996
Petzold, Klaus: „Im Schloß Eutin zwischen 1940 und 1958"/„Flüchtlinge im Jagdschloß Sielbeck"; in: Jahrbuch für Heimatkunde Eutin 2000 (JbE); hrsg. vom Verband zur Pflege und Förderung der Heimatkunde im Eutinischen e.V.)
Schippel, Albert: „Im Flüchtlingsstrom nach Eutin"; in JbE 1985
Schönfeld, Bruno: (Kriegs-)Tagebuch (nicht publiziert; Fundort: Ostholstein-Museum/Eutin)
Tillmann, Maren: Ausgebombte, Flüchtlinge und Vertriebene; in: Eutin 1945: Leben im Umbruch, Katalog der Schülerprojektgruppe des Carl-Maria-von-Weber-Gymnasiums, Eutin 1996;, S.72ff.
