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Nationalsozialismus im Eutinischen: Die Kirche und die "Judenfrage"

Die Kirche und die "Judenfrage"

Inhalt



1. Einleitung

2. Landesprobst Kieckbusch

3. Die Haltung zu Menschen jüdischen Glaubens

4. Rezeption - Die Wanderausstellung „Kirche Christen Juden
in Nordelbien“

5. Literaturverzeichnis

6. Anmerkungen

1. Einleitung



Nach dem Zerfall der Monarchie durch den 1. Weltkrieg bedurfte die Kirche einer neuen Verfassung, um die Trennung von Kirche und Staat zu gewährleisten.
Diese trat am 19.05.1921 in Kraft. Auf die repräsentative Synode stützte sich der Landeskirchenrat, dessen Vorsitz Superintendant Paul Rathgens zusammen mit dem Oberamtsrichter de Beer, ein Weltlicher, innehatte. Paul Rathgens war national-konservativ eingestellt. Die Kirchenführung setzte sich vorwiegend aus national denkenden Mitgliedern zusammen. Dies ist auch ein Grund dafür, dass sie den Verfassungstag am 11. August in den Jahren von 1923 bis 1930 nur unter Vorbehalt während der Gottesdienste zelebrierte (1).
Die christliche Kirche und deren geistliche Führer lehnten den Völkerbund ab und verurteilten den Versailler Vertrag, besonders in Hinsicht auf die Gebietsabtretungen.
Die Kirche sah in den Feinden der Nationalsozialisten auch die ihrigen, sodass sie während des Nationalsozialismus die nationalen Anliegen des Staates stützten. „[…] Sie [die Kirche] hat […] ihre Front gegen dieselben Hauptgegener gerichtet wie der Nationalsozialismus […]“(2) Die Intoleranz anderen Gesellschaftsgruppen gegenüber spiegelt sich in der Landessynode von 1924/1925 wider: „Die Landessynode erkennt die Berechtigung und den Wert aller Bestrebungen an, die darauf hinzielen, das eigene Volkstum zu stärken und vor zersetzendem jüdischen Einfluss zu bewahren.“ Schon im Jahre 1931 wurden Pastoren Studien zur „völkischen Frage“ und zur „Rassenforschung“ nahe gelegt und empfohlen (3). „Die nationale Revolution blieb auch auf die Kirche und das kirchliche Leben nicht ohne Einwirkung. Am Abend des 30. Januar 1933 läuteten die Glocken. Dankesgottesdienste wurden veranstaltet.“ (4)
In der Eutiner Landeskirche war ein Großteil der Kirchenmitglieder, wie in den Hamburger und Lübecker Gemeinden, Mitglied der NSDAP (5).
Durch den Einsatz der „Deutschen Christen“ versuchten die Nationalsozialisten vergeblich die Macht in der Eutiner Landeskirche zu übernehmen und eine Staatskirche zu gestalten. Dennoch identifizierte sich die Kirche mit der „nationalen Erhebung“ der Nationalsozialisten. Der Geburtstag des „Führers“ und der Jahrestag der „Machtübernahme“ wurde gesegnet. Dieses zeigt, dass eine Trennung vom nationalem Staat und Kirche nie wirklich vollzogen worden war.
Die Kirche erhoffte sich durch ihre Bestrebungen das Volk zum christlichen Glauben zurückzuführen.


2. Landesprobst Kieckbusch



Wilhelm Paul Carl Kieckbusch erblickte am 28.05.1891 das Licht der Welt. Sein Vater war im Staatsdienst tätig und seine Mutter kümmerte sich um ihn und seine fünf weiteren Geschwister. Demnach wurde Wilhelm Kieckbusch in recht beschiedenen Verhältnissen groß. Schon in seiner Kindheit faszinierten ihn der Einfluss und die Bedeutung der kirchlichen Predigten.
Nach seiner ersten theologischen Prüfung im Jahre 1922 diente er der Kirche als Hilfskraft für den Friedhofsdienst. Seine zweite theologische Prüfung absolvierte er im März 1924. In den nächsten fünf Jahren nahm er die Tätigkeiten eines Pastors in der St. Michaelis Kirche in Hamburg auf. Im Jahre 1929 kam er nach Ostholstein und wurde im Mai 1929 Pastor in Bad Malente (6). Seit dem 01. Oktober 1929, nach dem Tod des Landesprobstes Rathgens, wurde Wilhelm Kieckbusch als dessen Nachfolger in der evangelisch-lutherischen Landeskirche Eutin eingesetzt. Der Sieg gegen seine Mitstreiter war nur sehr knapp ausgefallen (7).

Man bezeichnete Wilhelm Kieckbusch als „Stahlhelmpastor“ und als „nationalen Hetzer“ wegen seiner stark deutschnationalen und antisemitischen Einstellung (8).
Aufgrund freundschaftlicher Beziehungen zum Regierungspräsidenten Johann Heinrich Böhmcker und anderen Nationalsozialisten, die auch bei seiner Einführung in das Amt des Landesprobstes anwesend waren, und seiner stark nationalen Einstellung erhielt Kieckbusch Kritik von Seiten der Sozialdemokraten, die die Religion als Privatsache ansahen.
Wilhelm Kieckbusch hatte schon vor der Machtübernahme Kontakte zu den Nationalsozialisten, indem er Weihnachtsreden auf Parteifesten hielt und den Trauerzug eines SS-Mannes (9), der bei politischen Straßenkämpfen getötet worden war, bis zur Stadtgrenze begleitete. Regierungspräsident Böhmcker, der 1937 aus politischen Gründen aus der Kirche austreten musste, versuchte jedoch vergeblich Kieckbusch von einem Eintritt in die NSDAP zu überzeugen. Laut Kieckbuschs Aussage bedufte er keiner Partei, da sein Gedankengut immer schon deutsch, national und sozial gewesen sei (10).
Während seiner Amtszeit setzte sich Wilhelm Kieckbusch stark für soziale Zwecke ein, die die wirtschaftliche als auch soziale Lage der Menschen bessern sollten. So unterstützte er z.B. das „Winterhilfswerk“ und den „Freiwilligen Arbeitsdienst“ (11). Diese führte zu ersten Kontakten zwischen Kirche und Nationalsozialisten.
Der Nationalsozialismus zeigte sich in der Kirche in Form von Hakenkreuzsymbolen und Parteifahnen. Seit der Regierungsübernahme durch die NSDAP am 15.07.1932 kritisierte der Reichsbanner die parteipolitische Einstellung der Kirche. Er empfand Hitler als Staatsverräter und forderte die Entlassung von kirchlichen Parteimitgliedern, deren Anzahl mit der Machtübernahme durch die NSDAP stark angestieg (12). Die Kirche verband die Ablehnung des Bolschewismus und die Verurteilung des Versailler Vertrags mit den Nationalsozialisten. Die „Kriegsschuldlüge“ müsse gesühnt werden. Nach Ansicht der Kirche war die Demokratie verantwortlich für die Kirchenaustritte der letzten Jahre. Weimar spiegelte den „sittlichen Verfall“ und jeglichen Moralverlust wider. Kieckbuschs Ansichten wurden durch die der Nationalsozialisten bestärkt, wie Kieckbusch unmissverständlich bekundete: „Danken wir auch unserem Herrgott, daß er und das Hakenkreuz hat auflodern lassen[…]“(13).

Trotz der sehr geringen Anzahl von „Juden“ im Eutiner Kirchenbezirk lassen sich Predigen und Ansprachen mit antisemitischen Äußerungen feststellen. Kieckbusch begründete seine antijüdische Grundhaltung damit, dass sich das auserwählte Volk Gottes, die „Juden“, sich gegen Jesus gewandt und ihn verraten hätten.
Während man jedoch in fast allen Teilen Deutschland die „Judenmission“ bekämpfte und „Judentaufen“ sowohl verhinderte als auch ablehnte, da „Judenchristen“ nicht zur kirchlichen Gemeinschaft gehören sollten, war Kieckbusch ein Befürworter der „Judenmission“ (14). Kieckbusch begrüßte grundsätzlich den Übertritt von Juden ins Christentum. Trotz seiner antisemitischen Einstellung und seiner fast vollständigen Übereinstimmung mit den Nationalsozialisten verband Kieckbusch ein nahezu freundschaftliches Verhältnis zu den Eutiner „Juden“, insbesondere mit der Familie Nathan. Jenny Nathan, die Familienälteste setzte Kieckbusch persönlich, ohne jegliche Erlaubnis, auf den jüdischen Friedhof bei. Kieckbusch sah die „Juden“ nicht als eine Rasse an, wie die Ideologie der Nationalsozialisten es vorgab, sondern als eine Religionsgemeinschaft.
Wilhelm Kieckbusch war stets ein Befürworter des Alten Testaments und war demnach auch gegen die „entjudete“ Version des Alten Testaments. Diese wurde vom Eisenacher „Institutes zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ im Jahre 1940 veröffentlicht. Das Alte Testament wurde im Nationalsozialismus als „jüdisch“ abgelehnt.

In der Kirche wurde in der Zeit des Nationalsozialismus das so genannte „Führerprinzip“ eingeführt. Die Landessynode verlor ihre Befugnisse an einen nationalsozialistischen Aktionsausschuss, und Gemeindekirchenräte wurden aufgelöst und durch meist nationalsozialistische Vertrauensleute ersetzt. Obwohl die „Deutschen Christen“ an Macht verloren, bildeten sie doch die Mehrheit in dieser neuen Synode (15). Kieckbusch wurde zum Führer der evangelisch-lutherischen Kirche Eutins.
Eine steigende Radikalisierung und der Konflikt um den „Arierparagraphen“ führten zu einer distanzierten Kieckbuschs Haltung gegenüber den „Deutschen Christen“. Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ wurde am 07.04.1933 mit dem darin enthaltenen „Arierparagraphen“ verabschiedet, dem auch die evangelisch-lutherische Landeskirche Eutin zustimmte. In der Kirche wurde der Paragraph am 06.09.1933 eingeführt.
Dies war auch ein Auslöser für den so genannten „Kirchenkampf“ zwischen den „Deutschen Christen“ und der seit 1934 bestehenden und aus dem „Pfarrernotbund“ hervorgegangenen „Bekennenden Kirche“. Der „Pfarrernotbund“ wurde 1933 gegründet. Es begann ein Kampf um die Kirchenleitung. Während die „Bekennende Kirche“ sich gegen den „Arierparagraphen“ und den Ausschluss getaufter "Juden" aus der Kirchengemeinde aussprach und sich für die Selbstständigkeit der Kirche einsetzte, richteten sich die „Deutschen Christen“, deren Gründung 1932 von den Nationalsozialisten veranlasst worden war, gegen alle „Juden“, auch den „Judenchristen“. Die „Deutschen Christen“ sollten parteipolitische Ziele in der Kirche verwirklichen und gelangten schnell zu Machteinfluss im Protestantismus. 1933 wurde ein „Deutscher Christ“ Reichsbischof. Da sowohl die verschiedenen Ausrichtungen der „Deutschen Christen“, als auch ihre radikale Haltung „Andersgläubiger“ gegenüber diese stark schwächten, wurde bereits Ende 1933 die Auflösung der „Deutschen Christen“ angestrebt. Durch den Zerfall der „Deutschen Christen“ entstand die „Nationalkirchliche Einung“ (16) und Hitler begann sich gegen die „Bekennende Kirche“ zu richten.
Die Eutiner Landeskirche unterstützte die Zielsetzung des „Arierparagraphen“, indem sie nach jüdischen Gemeindemitgliedern forschte und sowohl „Ahnenpässe“ als auch Abstammungsurkunden entwarf. In Eutin war jedoch niemand direkt von diesem Gesetz betroffen.
Der „Kirchenkampf“ wurde durch Kieckbuschs Zurückhaltung stark gedämpft. Bei der Bildung eines geistlichen Ministeriums 1933/ 34 sprach er sich gegen eine Bevorzugung der „Deutschen Christen“ aus, nahm aber auch keine Stellung zur Opposition der „Bekennenden Kirche“. Dieses stabilisierte zusätzlich das Verhältnis zu den Eutiner Nationalsozialisten. „[…] Wir waren aber einig in der Überzeugung, daß es wertlos und abwegig sei, von Richtungen in unserem kirchlich so gleichgültigen und lauen und flauen Ostholstein zu reden und dadurch unsere Gemeinden aufzuspalten […]“ (17)
Durch Kieckbuschs Widerstand wurde auch der Verlust der Selbstständigkeit der Eutiner Landeskirche im Zuge des „Gleichschaltungsprozesses“ verhindert. Aufgrund dessen schlugen auch die Bestrebungen der Vereinigung der kleineren Kirchen zu neu zu bildenden Landeskirchen fehl. Feinde machte er sich auch dadurch, dass er sich bei einem Vortrag der „Bekennenden Kirche“, durch den Pfarrer Johannes Lorentzen, als Pate zur Verfügung stellte. Die Konflikte die sich durch die Gleichschaltungsversuche und durch die „Deutschen Christen“ mit den Nationalsozialisten ergaben, führten 1936 dazu, dass, nachdem Kieckbuschs Freund Böhmcker Eutin verlassen hatte, die Nationalsozialisten Kieckbusch eine „sittliche Verfehlung“ aus dem Jahre 1931 anlasteten und versuchten ihn mit Verleumdungen aus seinem Amt zu drängen (18). Kieckbusch musste sich vor einem Strafgericht verantworten und sich einem Disziplinarverfahren entgegnen. Kieckbusch musste zeitweilig seine Amtsgeschäfte ruhen lassen. Das Verfahren wurde im Jahre 1938 eingestellt und Kieckbusch konnte seine Amtstätigkeiten wieder aufnehmen.
Seine weiteren Beschwerden über die Einflussgesuche des Regimes auf die Kirche ergaben ein Bestehen der Konfirmation und des Religionsunterrichts trotz der Jugendweihe und deutschgläubigen Lehrkräften. Kieckbusch wollte eine „Entchristianisierung“ verhindern.
Nach dem Krieg sah Kieckbusch sich und die Kirche frei von Schuld. Kieckbusch spricht sich gegen eine Schuldanerkennung der Kirchen aus, was man anhand eines Schreibens an die Verfasser der „Stuttgarter Erklärung“ zeigen kann: „Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen (Landesbischof von Württemberg Dr. Theophil Wurm) […] Mitteilung zu machen von der Unruhe, die Ihre Erklärung […] in unserm Kirchengebiet gerade bei den gutkirchlichen Kreisen hervorgerufen hat.
Besonders wertvolle Menschen sprechen von politischer Kurzsichtigkeit […] und von Kirchenaustritt, der wohl daraufhin geboten sei. Wir bitten […] herzlich in Zukunft sparsam sein zu wollen mit derartigen Kundgebungen, die, in kirchlichem Raum empfunden und gesagt, stets politisch ausgeschlachtet werden und dann nur Unheilanrichten. […] Also Vorsicht, hochwürdiger Herr Landesbischof.
Als Vertreter der kleinsten Landeskirche greife ich zur Feder, will ich dem Neuanfang in der evangelischen Kirche durch Sie einen von Gott gesegneten Fortgang wünsche.“ Die „Stuttgarter Erklärung“ vom 19.10.1945 zeigt ein mutiges und frühzeitiges Schuldanerkenntnis der Kirche:“[…]:durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. […]: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.
“Durch die Ablehnung der Erklärung lehnte Kieckbusch eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und eine Mitschuld der Kirche ab.
Noch nach dem Zusammenbruch des 3.Reiches stellte Kieckbusch zwei nationalsozialistisch gesinnte Pastoren in den Kirchendienst der evangelisch-lutherischen Kirche Eutin ein (19).
Am 15.05.1961 wurde Wilhelm Kieckbusch das Amt des Bischofs übertragen und am 28.05.1961 wurde er als Ehrenbürger der Stadt Eutin ausgezeichnet. Dieses lässt auf die Einstellung der Eutiner Bevölkerung zu Kieckbusch in dieser Zeit schließen. Die Schuldfrage der Kirche wurde nicht gestellt.
Kieckbusch starb im Jahre 1987 in Stockelsdorf.


3. Die Haltung zu Menschen jüdischen Glaubens



Menschen jüdischen Glaubens waren in Eutin immer eine Minderheit. Betrachtet man die Jahre 1871 und 1900, zwei Jahre für die es entsprechende Zahlen gibt, so ist erkennbar, dass schon im Kaiserreich nur eine verschwindend kleine Zahl von „Juden“ in Eutin lebte (20). Im Jahre 1933 zählt die amtliche Statistik nach der Erweiterung des Begriffes „Jude“ zu „Geltungs“- oder „Volljuden“ und der Einstufung „Mischling“ durch die Nationalsozialisten auf nur neun Menschen dieser Kategorien. Zu den jüdischen Familien die in Eutin lebten gehört die Familie Nathan, die als erste jüdische Familie im Jahre 1850 das Bürgerrecht erwarb (21). Nach dem Tode des oldenburgschen Landtagsabgeordneten Dr. med. N.N. Nathan blieben seine Tochter Jenny Nathan „Volljüdin“ und ihre Schwägerin Alice Nathan, ebenfalls „Volljüdin“, in Eutin zurück. Eduart Driels, der getaufte, unabhängige Sozialdemokrat und seine Frau Emma Driels sind ein Beispiel für die neue Aufteilung bei der Erfassung der jüdischen Mitbürger. Eduart Driels war „Volljude“ und seine Ehefrau Emma wurde als „Arierin-Ehefrau“ in den Listen des Polizeibezirkes Eutin (22) geführt. Die größte jüdische Familie in Eutin waren die Seckels. Sie bestand aus dem Familienoberhaupt Julius Seckels, „Volljude“, seine Frau Anna Amanda Seckels, „Arierin-Ehefrau“ und den beiden Söhnen Gerd Siegfried Fritz Seckels und dessen älterer Bruder Harald Albert Friedel Seckels. Beide wurden als „Mischling 1. Grades – Sohn“ bezeichnet. Der letzte in Eutin erfasste "Jude" war der „Mischling 1. Grades“ Walter Thormann. Sein Vater war der im Krieg gefallene „Volljude“ Leopold Würzburg (23).
Die Schicksale der „Eutiner Juden“ sollen an dieser Stelle genauer betrachtet werden. Insbesondere die von Jenny Nathan, Eduart Driels und Julius Seckels.
Einen zunächst leichteren Stand als die anderen jüdischen Familien hatte Jenny Nathan. Ihre Familie war mit Böhmcker befreundet. So rief der Regierungspräsident Böhmcker einen SA-Führer, den Nachbarn von Jenny Nathan, zur Ordnung, als dieser durchscheinen ließ, dass er das Grundstück von Jenny Nathan in seinen Besitz bringen wollte (24). Doch auch Jenny Nathan blieb von den „Nürnberger Gesetzen“ nicht verschont. Der Erlass „Das Maß war voll: Demonstration gegen die Judenbagage Nathan!“ beschreibt die individuelle Umsetzung der „Nürnberger Gesetze“ für Jenny Nathan (25). Ihrer Schwägerin Alice Nathan gelang es mit Hilfe eines Pariser Rabbiners, eine gefälschte „Carte d’Identite“ (26) zu erhalten, die es ihr ermöglichte, den „Judenstern“ (27) abzulegen und ein ruhiges, unerkanntes Leben in der Nähe der französischen Hauptstadt zu führen. Jenny Nathan blieb allein in Eutin zurück. Durch die Rationierung der Nahrung wurde die inzwischen 85jährige Frau weiter geschwächt. Mitte Dezember im Jahre 1940 wurde Jenny Nathan in ihrem unbeheizten Haus bewusstlos aufgefunden. Wenige Tage später verstarb sie an einer Lungenentzündung im Eutiner Krankenhaus. Landesprobst Kieckbusch beerdigte Jenny Nathan auf dem Begräbnisplatz ihrer Verwandten.
Julius Seckels hatte ebenfalls einen hochrangigen Fürsprecher. Sein ältester Sohn Gerd durfte dank der Fürsprache eines Eutiner SS-Mitgliedes und Großkaufmannes seine Ausbildung zum Schaufensterdekorateur mit einer Gesellenprüfung abschließen.
Eduard Driels und Julius Seckels Leben wurden von dem stellvertretenden Bürgermeister, Träger des Goldenen Parteiabzeichens und Oberstudienrat Gottfried Wolf gerettet. Im Nachlass von Seckels fand sich eine handschriftliche Notiz, auf der geschrieben stand: Gottfried Wolf habe „wie ein Bruder gehandelt“ (28).
Ein merkwürdiger Schicksalsschlag ist ohne Frage, dass die einzigen gewaltsam in Eutin umgekommenen Menschen jüdischen Glaubens durch Alliierte Luftangriffe den Tod fanden. Fünf ungarische und rumänische Frauen aus dem Konzentrationslager Lübberstedt bei Bremen fanden den Tod, als Tiefflieger den Transport, der in Richtung Norden ging, angriffen. Die Gräber der unbekannten jüdischen Frauen finden sich auf dem jüdischen Friedhof in der Nähe des Grabes von Jenny Nathan (29).
In Eutin wurden die jüdischen Bürger überwiegend mit Toleranz behandelt (30). Ein Grund hierfür ist wahrscheinlich, dass jüdische Organisationen und Einrichtungen weitgehend fehlten. Die einzige jüdische Einrichtung war ein kleiner jüdischer Friedhof. Nichtsdestotrotz beobachteten die Eutiner Geschäftsleute die Niederlassung von "Juden" argwöhnisch, da sie die wirtschaftliche Konkurrenz fürchteten. So ging im Jahre 1926 die einzige jüdische Fabrik, die Bürstenfabrik der Familie Würzburg in Eutin, nach dem Tode des Inhabers in den Besitz eines Nationalsozialisten über.
Die „Reichskristallnacht“ ging weitgehend an Eutin vorbei. Der einzige Grund hierfür war jedoch, dass, wie schon erwähnt, jegliche jüdische Einrichtungen bis auf den Friedhof fehlten. Ein Beweis dafür stellt die Verwüstung des jüdischen Friedhofes dar. Das einzige potentielle öffentliche jüdische Ziel wurde nicht verschont. Wahrscheinlich wäre es anderen Einrichtungen nicht anders ergangen.


4. Die Wanderausstellung „Kirche Christen Juden in Nordelbien“



Im Rahmen einer Wanderausstellung „Kirche, Christen, Juden in Nordelbien 1933-1945“ beschäftigte sich die Nordelbische Synode im Jahre 2003 mit dem Verhältnis zwischen Christen und Juden in Zeiten des Nationalsozialismus.
Die Themen dieser Ausstellung beziehen sich sowohl auf Judenhass und Judenmissionierung als auch auf den Nationalismus und das Luthertum, sowie auf das Leben und Handeln des Bischofs Kieckbusch.
Zu den Themen der Wanderausstellung wurde die zugehörige Bilanz „Eine Chronik gemischter Gefühle" (31) veröffentlicht.
Diese spiegelt die Diskussion unter allen Beteiligten wider. Es fielen drei Beiträge von Rita Rehm, Ernst Günther Prüß und Pastor Lutz Tamchina, die ihre Meinung und Einstellung zu Bischof Wilhelm Paul Carl Kieckbusch kundtun.
Pastor Lutz Tamchina, der einen Teil der Ausstellungen mit den Ergebnissen seiner Nachforschungen über Kieckbusch gestaltete, wird darin durch Ernst-Günther Prüß angegriffen und verurteilt. Prüß’ Meinung nach habe sich Tamchina gegen Kieckbusch gewendet und verurteile diesen für christliches Fehlverhalten. „Tamchina beleidigt seine verstorbenen Amtsbrüder, die sich nicht mehr wehren können, indem er sie öffentlich des Verbrechertums bezichtigt“ (32).

Rita Rehm, pensionierte Geschichtslehrerin, ist der Ansicht, dass Kieckbusch durch die NS-Zeit „hindurchgeschlittert“ sei und sich auf die Seite des Regimes gestellt habe. Ihre Einstellung gegenüber Bischof Kieckbusch begründet sie anhand der Ereignisse, die Stockes in seinen Büchern „Meine kleine Stadt steht für tausend andere“ und „Kleinstadt und Nationalsozialismus“ veröffentlicht hat. Rita Rehm meint, dass man die Augen nicht vor der Geschichte verschließen könne und sich auch damit auseinandersetzen müsse. Kieckbusch sei schon vor der „Machtergreifung“ der Nazis deutschnational eingestellt gewesen und habe die Nationalsozialisten mit aller Kraft unterstützt. Unverständlich sei für sie, dass Kieckbusch das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ verweigert habe, obwohl dieses nicht auf eine direkte Schuld der Kirche hinweise. Auch die Einstellung von zwei nationalsozialistisch orientierten Pastoren in den Kirchendienst nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches sei unerklärlich und unverantwortlich. Der braune Faden lasse sich auch noch in den 60iger Jahren erkennen mit der Wiederwahl des Bürgermeisters Dr. Ricklefs, was die Ernennung Kieckbuschs zum Bischof erklären würde. Das wirke, als habe ein Bruch mit der Geschichte in den 60iger Jahren noch nicht stattgefunden. Das Gedankengut der Eutiner Bevölkerung war noch nicht bereit für eine politische Veränderung. Wilhelm Kieckbusch habe eine zentrale Rolle sowohl in der Landeskirche als auch in der Politik innegehabt. Seine Reden und Ansprachen seien politisch im Sinne der Zeit gewesen, sodass Kieckbusch auch eine tragende Rolle eingenommen habe. Da er die „Deutschen Christen“ jedoch abgelehnt habe, aufgrund dessen, dass diese das alte Testament hätten „judenfrei“ machen wollen, habe er auch eine Gegenposition zu den Nationalsozialisten bezogen und sich somit durch die Zeit „durchschlängeln“ können.
Kieckbusch habe in den Ansichten der Nationalsozialisten seine deutschnationale Haltung bestätigt gefühlt. Wiederum sei er kein Rassist gewesen und habe somit der nationalsozialistischen „Rassenideologie“ widersprochen. Die Eindrücke jedoch, die Rita Rehm sich persönlich von Kieckbusch habe machen können seien in menschlicher Sicht stets positiv gewesen. Die Eutiner Kirche allgemein trage eine große Schuld als Mittäter am Nationalsozialismus, auch aufgrund dessen, dass die Kirche den „Arierparagraphen“ eingeführt und befolgt habe. Durch die Wanderausstellung habe sich die Kirche zu ihrer Schuld bekannt ohne erklären und verteidigen zu wollen. Die Verdrängung in den Köpfen der Eutiner Bevölkerung sei jedoch noch heute aus diesen nicht wegzudenken.

Lutz Tamchina sieht in Kieckbusch eher einen Antijudaisten als einen Antisemiten. Der Antijudaismus begründete sich auf die Wendung des auserwählten Volk Gottes gegen Jesus. Zu betonen sei die menschliche Haltung Kieckbuschs gegenüber den in Eutin lebenden „Juden“. Die Beerdigung der letzten in Eutin zurückgebliebenen Jüdin Jenny Nathan sei als ein Akt des Mutes anzusehen. Auch dass Kieckbusch von den Nationalsozialisten aus dem Amt gedrängt werden sollte und er nie der NSDAP beigetreten sei, weise daraufhin, dass Kieckbusch keineswegs den Nationalsozialisten in allen Punkten habe Folge leisten wollen.
„Ich halte es für ein Zeichen von Menschlichkeit Schuld zu erkennen und einzugestehen.“ (33)
Lutz Tamchinas Meinung nach muss man das nationalsozialistische Gedankengut aus der Kirche verbannen und dafür sorgen, dass rechtsradikales Gedankengut nicht noch einmal den Segen der Kirche erfährt.


5. Literaturverzeichnis



Buss, Hansjörg, Göhres, Annette, Linck, Stephan, Liß-Walther (Hrsg.) „Eine Chronik gemischter Gefühle“, Bilanz der Wanderausstellung „Kirche, Christen, Juden in Nordelbien 1933-1945

Dewner, Martin, 2003, Ausstellung: „Kirche, Christen, Juden in Nordelbien 1933-1945“, Mappe für ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Hamburg

Gallien, Mathias-Wolf, „Täter, Opfer, Mitläufer?“, Nordelbische Kirchenzeitung Nr.5 vom 26.01.2003

Geelhaar, Tim, Die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Eutin im National-sozialismus und in der Nachkriegszeit

Nordelbisches Kirchenarchiv, 32.03.01 (Landeskirche Hamburg-Personalakten der Pastoren), Kieckbusch, Wilhelm Carl Theodor 1-3; NEK-Archiv, 94 (Dokumentation), Kieckbusch, Wilhelm; Friedrich Hammer und Herwarth v. Schade: Die Hamburger Pastorinnen und Pastoren seit der Reformation, Teil 1:Alphabethisches Hauptverzeichnis, Hamburg 1995, S.89

Rehm, Rita, Interview vom 22.06.2006

Rönnpag, Otto jun.,1966, Bischof Wilhelm Kieckbusch- Ein Leben für Volk und Kirche, Festschrift zu seinem 75. Geburtstag, Struve’s Buchdruckerei und Verlag-Eutin

Stokes (1984), Lawrence D., Kleinstadt im Nationalsozialismus, Quellen und Forschungen zur Geschichte Schleswig Holsteins, hg. von der Gesellschaft für Schleswig Holsteinische Geschichte Band 82, S.717-742, 1984; Karl Wachholtz Verlag Neumünster

Stokes (2004), Laurence D., „Meine kleine Stadt steht für tausend andere…“, Studien zur Geschichte von Eutin in Holstein, 1918-1945, Struve’s Buchdruckerei und Verlag, Eutin, 2004, S. 142-153, S. 399-410


6. Anmerkungen



(1) vgl. Stokes (1984), S.634
(2) zitiert nach: Stokes, Lawrence D.: Die Eutiner Landeskirche zwischen
Novemberrevolution und Nationalsozialismus; in: Reumann, Klauspeter
(Hg):Kirche und Nationalszialismus- Beiträge zur Geschichte des
Kirchenkampfes in Schleswig-Holstein, Neumünster 1988
(3) vgl. Stokes (1984), S.636
(4) Aus dem Protokollbuch der evangelischen Kirchengemeinde Kaltenkirchen
(5) vgl. Stokes (2004), S.150, […] 60% der Bediensteten der Landeskirche
gehörten 1939 entweder der NSDAP oder der SA an […]
(6) vgl. Nordelbisches Kirchenarchiv, Landeskirche Hamburg-Personalakten
der Pastoren; „Die Hamburger Pastorinnen und Pastoren seit der
Reformation“ von Friedrich Hammer und Herwarth v. Schade, Hamburg
1995, S.89
(7) Kieckbusch gewann die Wahl mit 26 gegen 18 Stimmen, vgl. Stokes
(1984), S.636
(8) vgl. Stokes (1984), S.636
(9) vgl. Stokes (2004), S.289- 313, „Der Fall Radke“
(10) vgl. Stokes (2004), S.150
(11) vgl. Stokes (1984), S.636
(12) vgl. Stokes (2004), S.145
(13) Kieckbusch 1933, vgl. Stokes (2004), S.146
(14) Diese bezeichnet eine Missionierung der Juden durch die Christen.
(15) vgl. Stokes (2004), S.147
(16) „Nationalkirchliche Einung“: Diese bildete das Eisenacher „Institutes zur
Erforschung und Bekämpfung des jüdischen Einflusses auf das deutsche
kirchliche Leben“.
(17) Schreiben Kiechbuschs an den Herrn Oberkreisdirektor Lotz, Eutin, vom
13.05.1946; aus Landesarchiv Schleswig Eutin 320/3
(18) vgl. Stokes (2004), S.149-150
(19) Rönck und Hossenfelder, beides „Deutsche Christen“
(20) 1871: acht Glaubensjuden; 1900: sechs Glaubensjuden; vgl. Stokes
(1984), S.717
(21) vgl. Stokes (1984), S.717, VII. Kapitel, Die Juden
(22) Bericht der Schutzpolzei-Dienstabteilung Eutin an den Landesrat,
22.7.1939 – SAE, Nr. 2794, vgl. Stokes (1984), S.742
(23) ab dem 1. Januar 1939 führen alle männlichen Juden den
Beinamen „Israel“ und alle weiblichen den Beinamen „Sara“, vgl. Stokes
(2004), S. 406 und Stokes (1984), S. 742
(24) Böhmcker an den Bürgermeister (Eutin), 29.6.1935; Stokes, Kleinstadt
im Nationalsozialismus, S.719, 735-6 Anm. 1.
(25) in: Lawrence D. Stokes, Kleinstadt im Nationalsozialismus, Quellen und
Forschungen zur Geschichte Schleswig Holsteins, hg. von der Gesellschaft
für Schleswig Holsteinische Geschichte Band 82, 1984; Karl Wachholtz
Verlag Neumünster
(26) vgl. Stokes (2004), S. 406
(27) vgl. Stokes (2004), S.406, […] „das gelbe Kennzeichen abzulegen“ […]
(28) vgl. Stokes (1984), S. 721, Anm. 28.
(29) vgl. Stokes (2004), S.408, Anm. 43
(30) vgl. Stokes (1984), S.717
(31) Bilanz der Wanderausstellung „Kirche, Christen, Juden in Nordelbien
1933-1945“ Hrsg. Hansjörg Buss, Annette Göhrens, Stephan Linck,
Joachim Liß-Walther
(32) Leserbrief „Verstorbene beleidigt“ von Ernst Günther Prüß aus dem
Ostholsteiner Anzeiger vom 15.03.2003
(33) Leserbrief „War noch etwas?“ von Pastor Lutz Tamchina aus dem
Ostholsteiner Anzeiger vom 03.02.2003 (Sonderseite)


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